×

Die Stadt der ungenutzten Möglichkeiten

GESTÄNDNIS: Die schlechte Laune der Wiener ist keine Boshaftigkeit. Sondern ein heimliches Geständnis. Ein Essay über das Heimischwerden in Wien. Text: Sebastian Krause

Die Stadt der ungenutzten Möglichkeiten

Hass, ja Hass. Als ich das erste Mal in Wien mit der U-Bahn fuhr, beschloss ich, diese Stadt zu hassen. Ich war Schüler und wusste nicht, dass Floridsdorf im Norden liegt und Siebenhirten im Süden. Verloren stand ich am Bahnsteig der U6, es war schon spät und ich fragte einen Passanten, in welche Richtung ich denn müsse, um zur Stadthalle zu kommen. „Heast, bin i a Landkoartn?“, fragte er zurück und betonte die Vokale mit ausgedehntem Meidlinger Akzent. Wenn ich mich heute an ihn erinnere, glaube ich immer, er trank Dosenbier und hatte kaum noch Zähne. Damals versuchte ich verlegen zu lachen. Er lachte nicht.

Heute bin ich Mitte 30 – und lebe seit ein paar Jahren in Wien. In dieser Stadt, die für alles Mögliche gebaut wurde, aber sicherlich nicht, um die Hauptstadt Österreichs zu sein. Der Wasserkopf Wien. Das politische Zentrum. Kultur. Millionenstadt im Kleinstaat. Wien und Österreich sind sich immer fremd geblieben. Aufmerksame Großstädter wissen das. Sebastian Kurz kommt auch aus Meidling, die langgezogenen Vokale hat er dort gelassen, aber wenn er im restlichen Österreich unterwegs ist, spricht er schlecht über die Stadt. Zu viele Ausländer. Fremd im eigenen Bezirk. Moloch. Langschläfer. Im Sommer will er wieder durch das Land fahren, es ist Wahlkampf und es wird wieder darum gehen, in Wien das Böse zu beschreiben. Österreich und Wien einander näherzubringen, das ist politisch unklug.
Vor drei Jahren präsentierte der Wiener Tourismusdirektor Norbert Kettner den neuen Slogan der Stadt. Er sei besonders ausgefuchst mit Experten aus der Hirnforschung entstanden und solle das „Premium-Selbstverständnis der Stadt“ ausdrücken. Er lautet: „Wien – Jetzt. Für immer“. Kettner sieht Wiens globale Anziehungskraft, er will Touristen aus dem Osten, er will Luxus, Reichtum und Macht anlocken, er möchte Geld in die Stadt holen. Für Werbung in Österreich will er nichts ausgeben. Österreicher kommen ja sowieso alle irgendwann.
Er hat recht. Wer in diesem Land umzieht, zieht fast immer nach Wien. Es geht nicht anders. Manches holt das Land nicht mehr auf, schon gar nicht den Rückstand am modernen Arbeitsmarkt und den Anschluss an die globalisierte Welt. Den Grazern schwoll die Brust, als ein Stararchitekt eine Insel in die Mur pflanzte, in Kärnten glaubt man, vom Pyramidenkogel die Welt zu überblicken. Die Wiener sehen seit Jahrzehnten dabei zu, wie die Innenstadt von Touristen aus aller Welt überrannt wird. Am neuen Bahnhof entstand eine ganze Stadt, die Seestadt sowieso, neue U-Bahn, dritte Landebahn, Expansion am Reißbrett. keyboard_arrow_right

keyboard_arrow_rightVeränderung ist die Konstante, Gleichmut die Antwort. Muas da wuascht sein, Oida. Wien ist die lebenswerteste Stadt der Welt, nur seine Bewohner und Sebastian Kurz scheinen das nicht zu wissen. Egal, dass die U-Bahnen die ganze Nacht fahren; egal, dass Wien als Großstadt Weinberge, Strände und wunderschöne Grätzl bietet; egal, dass die Stadtplanung seit 100 Jahren die soziale Durchmischung fördert und so die Ghettoisierung weitgehend verhindert hat. Um als Österreicher in Wien glücklich zu werden, muss man lernen, den Widerspruch und seinen Platz in der Hackordnung zu akzeptieren. Denn selbst wenn ich hier lebe: Wiener bin ich nicht. Ich habe mir die Stadt nur ausgeborgt. Wien, jetzt. Nicht für immer.

Ich lebe mit meiner Frau im 7. Bezirk. Da gehören wir auch hin, neu verheiratet, man sagt hier „double income, no kids“. Man sagt hier generell viel auf Englisch, Wienerisch hört man nie, wenn, dann nur Hipsterdeutsch: Laktoseintoleranz. Uber. Veganes Leder. Yogabrot. CBD-Shops. In unseren Bars trinkt man Craft-Bier und wenn es schon aus dem Fass sein muss, dann bitte aus Bayern oder Popovice. Wir können im Umkreis von einem halben Kilometer eine kulinarische Weltreise machen und dann einfach ins Bett fallen. Premium-Selbstverständnis. Wir haben unser Grätzl gefunden und damit auch unsere Art, uns in dieser Stadt heimisch zu fühlen: Wir verlassen es selten. Wien ist zu groß, zu überfordernd, zu vielseitig – sich an die Stadt anzupassen, bedeutet, sich seine Nische zu suchen, das haben wir von den echten Einheimischen gelernt. Kein Wiener würde je über sich sagen, Wiener zu sein. Man ist Hütteldorfer, Ottakringer, Hietzinger oder zahnloser Meidlinger.
Die Beschränkung auf das Lokale, das Nahbare, das Grätzl – es mag das große Missverständnis sein im Dialog zwischen Wien und dem Land. Österreich ist den Wienern zu klein, aber Wien ist ihnen zu groß. Sie haben sich ihre Stadt verkleinert, sie zerteilt in wundervolle Orte der Überschaubarkeit. Ex-Bürgermeister Michael Häupl beschrieb die Dreifaltigkeit der Stadt nicht als Flughafen, UNO-City und Burg­theater, sondern als Dreieck vor der Haustür, zwischen Heurigem, Kaffeehaus und Beisl.

Die schlechte Laune, das Sudern und das Granteln, ois is oasch. Es sind Eingeständnisse, nicht Schritt halten zu können. Die Kultur, das Essen, neue Märkte hier, neue Bars dort, warst du schon hier, hast du das schon gesehen? Wien ist zu viel, Auskunft über die fließende Landkarte der Stadt und der Welt können nur die wenigsten geben. Die Alten konzentrieren ihren Blick auf sich und ihr Grätzl, sie haben sich längst mit diesem wienerischen Zwiespalt abgefunden. Die Jungen ebenso, sie nennen es nur anders: Nachhaltigkeit, Hedonismus, Instagram.




5 Sätze, die jeder in Wien kennen muss

BETRIEBSANLEITUNG: Wer in Wien nicht als Tourist auffallen möchte, kommt mit folgenden Sätzen unfallfrei durch Tag und Nacht.

Die Stadt der ungenutzten Möglichkeiten


1

Mir is so koit. / Mir is so haß.
Man kann es drehen und wenden, wie man will: Wien kennt nur zwei Jahreszeiten und beide sind „oasch“: Im Winter herrschen sibirische Temperaturen, dazu pfeift ein Permanent-Orkan und man sieht monatelang keinen Sonnenstrahl. Und im Sommer? 40 Grad im Schatten, von kühlenden Gewittern keine Rede und der Wind? Pfeift drauf, wenn man ihn mal braucht.

2

Heast, Oida!
Hört man immer, weil es immer passt. Der Universalausruf für alle Gemütslagen zwischen Fußballplatz, Beziehungskrise und dem täglichen Verkehrsstau. Je nach Betonung des zweiten Wortes offenbart der Ausspruch seine wahre Intention.

3

Steigen Sie bitte nicht mehr ein.
Vollsprint mit Einkaufssackerl, Ellbogencheck für unschuldige Passanten – und dann: zu spät. Die U-Bahn knallt einem die Tür vor der Nase zu. Passiert praktisch jedes Mal.

4

An Käskrainer bitte!
Was anderen Städten das Kebap, ist Wien das Wurst-Käse-Szenario. Stets gehört am Würstelstand, wird befördert von und fördert nächtlichen Bierdurst.

5

Was habts denn vegan?
Gegenfrage zum Käsekreiner, meist gehört im 7. Bezirk, gestellt von Menschen in zu kurzen Hosen und randlosen Brillen: Das junge Wien isst bewusst und fotografiert die Speisen auch gern. Folgefrage daher meist: „Bist auf Insta?“




Über die Freude, Leute zu sekkieren

INTERVIEW: Autorin, Satirikerin und Illustratorin Stefanie Sargnagel über den Wiener Schmäh, gute Witze, fade Gefälligkeit und die politische Aufgeladenheit der Vengaboys.

Die Stadt der ungenutzten Möglichkeiten

„Generell gilt, je bedrückender eine Situation ist, desto schwärzer wird der Humor“, so Sargnagel

Unsere deutschen Nachbarn beneiden uns oft um unseren Humor. Was charakterisiert für Sie den Schmäh? Und warum gedeiht er in Wien so prächtig?
Eine boshafte Ironie, Freunde aus Deutschland fühlen sich anfangs oft verarscht oder können nicht einordnen, was ernst gemeint ist und was nicht. Eine schwarze Tragikomik, einen Hang zum Fäkalen und zum Makaberen. Er ist weniger albern, absurd oder verspielt klamaukig, sondern realistisch und bitterböse. Wien muss halt Österreich verarbeiten, da braucht man viel Humor.

Wer beherrscht oder beherrschte ihn Ihrer Meinung nach perfekt – und warum?
Ich bin Riesenfan von Manfred Deix oder dem Humor in den Nöstlinger Dialektgedichten, liebe den Kabarettfilm „Muttertag“. Generell war das Kabarett der 90er sehr gut, weniger angepasst und originärer als die heutige Kabarettszene. Die ursprüngliche Anarchie von Grissemann und Stermann oder den „Projekt X“-Humor habe ich auch geliebt.

Was macht einen guten Witz aus?
Meine Lieblingswitze sind jene, bei denen einem das Lachen fast im Halse stecken bleibt. Bei Humor geht es oft darum, Gewohntes durcheinanderzubringen und damit aufzuzeigen, wie absurd eigentlich das Normale ist. Man überschreitet Grenzen und spielt mit Tabus. Deshalb funktioniert er so gut gegen Autoritäten. Ein guter Witz bricht mit der Erwartungshaltung, er überrascht und verwirrt einen und veranlasst einen dazu, Dinge neu zu betrachten.

Worüber müssen Sie aktuell lachen?
Das Ibizavideo und dass die Vengaboys plötzlich politisch aufgeladen sind, ist schon ein großes Highlight. keyboard_arrow_right

keyboard_arrow_right Das Ibizavideo und dass die Vengaboys plötzlich politisch aufgeladen sind, ist schon ein großes Highlight.
Ich mag keine Humoristen, die aufpassen, es sich mit niemandem zu verscherzen. Dafür ist Humor zu schade, als dass man nur gefällig sein will.

Welche Wörter auf Wienerisch machen Ihnen gute Laune?
„Brunzeln“ zum Beispiel.

Ihren Texten, Miniaturen und Face­book-Statusmeldungen wird auch viel Beislgrind und die Erlegung der Sozialromantik nachgesagt: An welchen Orten wohnt der gute Humor in Wien?
Generell gilt, je bedrückender eine Situation ist, desto schwärzer wird der Humor. Humor kann ein Rettungsanker sein in verzweifelten Lagen. Ich find, schon in Alltagsfloskeln liegt in Wien ein schräger Humor. Im Beisl natürlich auch. Irgendwann habe ich festgestellt, dass die lustigsten Wienerinnen, die ich kenne, oft iranische Wurzeln haben. Das ist wirklich auffällig.

Sie sind bekennender Deix-Fan. Wie deuten Sie sein Humor-Verständnis?
Für mich ist das ein hochsensibler Mensch gewesen, der so die Grausligkeiten um sich verarbeitet hat. Ich finde es sehr liebevoll in seiner Boshaftigkeit. Er hatte eine Freude daran, Leute zu sekkieren. Das ist schön.

Julia Schafferhofer

Anzeige
Anzeige
Anzeige
Nächster Artikel

Podcast's

test
Grätzlcast
23 Wiener Bezirke, 23 Wiener Persönlichkeiten: Sie alle erzählen bei Fritz Hutter vom Leben in ihrem Grätzl, von ihrem Schaffen in Wien wie am Rest des Planeten, liefern Tipps in Sachen Kulinarik, Kultur, Freizeitgestaltung und helfen unseren Hörern, die Hauptstadt und ihre Einzelteile aus teils ganz neuen Perspektiven zu erleben. Mal informativer, mal lustiger, mal schräger und mal ernster.
test
Popcast
Österreichische Bands nehmen ihre Songs auseinander und erzählen so, Stück für Stück, die Geschichte ihrer größten Hits. Hosted by Ambra Schuster.