Herr Böheim, warum gibt es in Österreich so viele offene Stellen bei zugleich hoher Arbeitslosigkeit?
Auf der einen Seite gibt es Nachfrage für Beschäftigte, die ein bestimmtes Qualifikationsprofil mitbringen sollen. Auf der anderen Seite gibt es Leute, die Arbeit nachfragen, diese Qualifikation aber nicht mitbringen. Jemand, der 20 Jahre als Installateur gearbeitet hat, wird nicht heute im Pflegebereich anfangen können. Die Leute haben ein anderes Portfolio an Fähigkeiten und Vorstellungen. Wir haben hier also ein „Mismatch“ – ein Auseinanderklaffen von nachgefragten Fähigkeiten und angebotenen Fähigkeiten. Außerdem sind die Jobs nicht immer dort, wo die Leute wohnen. Das ist dann ein regionales Mismatch. Klassisches Beispiel: Die Hoteliers in Tirol suchen die Arbeitslosen in Wien.

Sie schrieben jüngst, dass zum Entstehen dieses Auseinanderklaffens eine Form von „Polarisierung“ möglicherweise mehr beigetragen hat als regionale Aspekte. Wie meinen Sie das?
Wir haben zunehmend handwerkliche Tätigkeiten, die erfordern, auf spezielle Sachen einzugehen. Auf der anderen Seite sind interaktive und intellektuelle Arbeiten gesucht. Viele Jobs, die nur aus manuellen Routinetätigkeiten bestehen, fallen weg. Alles was routinisiert werden kann wird weniger, Jobs, die spezielle Tätigkeiten umfassen, werden relativ mehr – das ist die Polarisierung. Es reicht als Staplerfahrer nicht mehr, einfach nur Stapler fahren zu können. Sie müssen auch mit einer digitalen Lagerhaltungssoftware umgehen können und vermutlich passabel Englisch sprechen, weil Bestandslisten auf Englisch geführt werden.

Ihre These ist, dass die Qualifikation der arbeitslosen Menschen nicht mit dieser Transformation Schritt halten kann?
Sie ist einfach träger. Ein Anforderungsprofil haben Sie in zwei Tagen aufgesetzt. Wenn Sie eine Programmiersprache lernen wollen, brauchen Sie typischerweise länger. Diese Trägheit trägt zum Mismatch bei.  

In einer Studie zu diesem Mismatch am österreichischen Arbeitsmarkt kommen Sie zum Schluss, dass der Spalt seit 2014 deutlich größer wird. Warum?
Das wissen wir nicht. Das ist eine der großen Fragen. Das Mismatch war immer schon da, das wird es auch in jeder Marktwirtschaft geben. Sie können die Löhne sehr, sehr stark erhöhen, und es wird trotzdem eine gewisse Zeit dauern, bis die Leute jene Qualifikationen haben, die benötigt sind. Seit 2014 beobachten wir die Verschiebung dieses Mismatches.

Welche Annahmen gibt es zum Entstehen des Mismatches?
Es gab Arbeitsmarkt-Öffnungen und damit verbunden einen Angebotsschock. Dieser hat das Arbeitsangebot durcheinandergebracht und die Firmen haben mehr oder weniger gut drauf reagiert. Eine Hypothese ist, dass diese neuen Arbeiterinnen und Arbeiter nicht aufs Land hinausfinden. Sie kommen in die Metropolen, sie kommen nach Wien, nach Graz, nach Linz – aber dort, wo viele Jobs gesucht werden, dort sind sie nicht. Deswegen bleiben in der Peripherie Jobs vakant.

Wie passt das damit zusammen, dass wir zurzeit die höchsten Arbeitslosenquoten in den Städten vorfinden?
Die Quote per se sagt nicht viel aus. Die Jobfindungsrate etwa ist in Wien eine der höchsten. Es werden also viele Leute arbeitslos, aber viele von ihnen finden relativ schnell wieder Beschäftigung. Das ist in allen urbanen Räumen so und hat mit der Demografie zu tun. Graz, Wien – das sind Städte mit vielen Studierenden. Die steigen in ihren ersten Job ein, verlieren den, treten in den nächsten ein. Das ist kein dauerhaftes Problem. Das dauerhafte Problem sind die Langzeitarbeitslosen. Weil hier die Qualifikation einfach nicht zum Anforderungsprofil passt. Bei einer Verfestigung der Arbeitslosigkeit kommt es zur Entmutigung der Leute.

Könnte eine Verschärfung von Zumutbarkeitsbestimmungen oder eine Neuregelung des Arbeitslosengeldes das Mismatch verringern?
Bis zu einem gewissen Grad sicher. Wenn Sie irgendwo Druck ausüben, muss der auch irgendwo hin. In welche Richtung das geht und ob das tatsächlich ein großer Effekt ist, muss man sich mit Zahlen ansehen. Das kann man vom Schreibtisch aus nur abschätzen. Meine persönliche Meinung ist: Sie können das Arbeitslosengeld reduzieren. Aber Sie müssten ziemlich stark an der Schraube drehen, damit wirklich Effekte sichtbar sind.

Ist es realistisch, dass in Österreich stark gedreht wird?
Das Arbeitslosengeld ist mit 55 Prozent Ersatzrate nicht sonderlich hoch. Mein Verdacht ist daher: Da wird nicht viel passieren. Außerdem: Wenn Sie Personen für den Pflegebereich suchen, werden Sie vermutlich niemanden einstellen, der den Job nicht machen will. Man kann die Leute natürlich dort hineindrängen – unter Androhung ihnen das Geld zu sperren oder tatsächlich zu sperren. Aber wollen Sie Ihren pflegebedürftigen Großvater von jemandem betreuen lassen, der diesen Job nicht machen will?

Wie schätzen Sie ein degressives Modell ein, wo man am Anfang höheres Arbeitslosengeld zahlt und dann aber rasch unter die Marke von 55 Prozent absenkt?
Ich vermute, es wird keine großen Umwälzungen am Arbeitsmarkt mit sich bringen. Diejenigen, die keinen Job finden, weil sie schlecht qualifiziert sind, werden auch keinen Job finden, wenn sie zehn oder 20 Prozent weniger Arbeitslosengeld bekommen.

Arbeitsmarkt-Forscher Rene Böheim
Arbeitsmarkt-Forscher Rene Böheim © JKU

Was muss man tun, damit auch diese Menschen wieder Arbeit finden?
Man muss sich fragen, woher kommt die Langzeitarbeitslosigkeit. Sie kann viele Ursachen haben. Es kann sein, dass Leute einfach nicht suchen. Weil sie nicht arbeiten wollen, es sich gut gehen lassen in der „sozialen Hängematte“. Da ist der Befund recht klar: So viele sind das nicht, das ist nicht die Masse der Arbeitslosen. In Sachen Zuverdienstmöglichkeit sehen wir in unseren Untersuchungen etwa: Wenn Arbeitslose dazuverdienen, erhöht sich die Arbeitslosendauer um ein paar Tage. Es ist statistisch sichtbar, aber es sind keine großen Unterschiede. Wenn man das kürzt, sinkt das um ein, zwei Tage, vielleicht sogar eine Woche. Das ist aber nicht das große Problem des Arbeitsmarktes. Das große Problem ist: Ein Drittel der arbeitslosen Menschen ist über ein Jahr lang arbeitslos. Hier ist es sehr viel wichtiger, an der Qualifizierung, an der Re-Qualifizierung, an der Umschulung zu drehen.

Heißt das, dass man innerhalb kurzer Zeit am Arbeitsmarkt wenig ändern kann?
Wenn Sie Leute ausbilden wollen, kostet das Zeit. Trotzdem ist das Wichtigste – und das werden alle Ökonomen unterschreiben – Bildung, Ausbildung und Weiterbildung. Was seit Langem am Tisch liegt, ist eine mögliche Einschleifung der Sozialversicherungsbeiträge an der Geringfügigkeitsgrenze. Aktuell zahlen Sie bis zur Geringfügigkeitsgrenze nur Unfallversicherung und danach kommt der gesamte Sozialversicherungsbeitrag dazu. Das ist natürlich ein großer Sockel. Da bleibt ihnen weniger Netto vom Brutto, das ist eine Hürde.