Wohl kein anderes Wort hat während der Pandemie derart an Bedeutung gewonnen wie Normalität. Während sich über Monate hinweg Länder quer über den Globus von Lockdown zu Lockdown und von Masken- zu Testpflicht hantelten, hält die Rückkehr ins Leben wie vor der Krise immer mehr Einzug in den Alltag. In Bukarest ist nur noch wenig von der Pandemie spürbar. Statt Masken verdecken volle Bierkrüge die Gesichter der Menschen in der Stadt und ein Spaziergang am Sonntagvormittag durch die architektonisch an Paris angelehnte Altstadt lässt die Pandemie fast völlig in den Hintergrund rücken.

Aus den Gassen hallt es bereits laut und kraftvoll. Die nordmazedonischen Fans haben das Stadtzentrum stimmungstechnisch ebenso übernommen wie am frühen Abend das Stadion. Die erste EM-Teilnahme des kleinen Balkan-Staates sorgt bei den mitgereisten Fans für Ekstase. Mit Rüstung und Helm, die die Geschichte des Landes rund um Alexander den Großen widerspiegeln sollen, geben die Nordmazedonier den Ton an. Die österreichischen Fans halten sich zunächst, auch aufgrund ihrer zahlenmäßigen Unterlegenheit, vornehm zurück. Das ändert sich, als im Stadion von Bukarest die inoffizielle Bundeshymne ertönt. Bei Reinhard Fendrichs I am from Austria „schmützt vielen das Eis von da Sö und a das Bluat wird auf amoi schnö“.

Mit Anpfiff der Partie erreicht die Stimmung ihren ersten Höhepunkt - 13.000 vor Ort beobachten in der Folge zunächst einen vorsichtigen Beginn zweier Mannschaften. David Alaba, der sich diesmal in der Innenverteidigung wiederfindet, versucht sich lieber in der ruhigen Spieleröffnung als noch vor fünf Jahren, als er nach 26 Sekunden gegen Ungarn die Standfestigkeit der Stange austestete. Aufgrund des damaligen Endresultats wohl die bessere Entscheidung.

Die zunächst zaghaften Bemühungen der Österreicher, den Ball ins letzte Drittel zu bringen, werden stets von einem gellenden Pfeifkonzert der nordmazedonischen Fans begleitet. Diese verstummen nach 18 Minuten dann jedoch merkbar. Der Geniestreich von Marcel Sabitzer, der den perfekt einlaufenden Stefan Lainer bedient, der mittels Akrobatik-Künsten, auf die selbst Erling Haaland neidisch wäre, ließ nämlich die Österreich-Fans die Stimmung erobern. Die erste Führung einer österreichischen Nationalmannschaft in der EM-Historie - sie lässt das Momentum kippen. Plötzlich lief der Ball, die breite Brust von Xaver Schlager und Kollegen, sie war bis auf die obersten Ränge im Stadion erkennbar. Sasa Kalajdzic hätte nur fünf Minuten nach dem Führungstreffer zahlreichen ÖFB-Fans viele Nerven gespart, wenn er seine Großchance zum 2:0 verwertet hätte. Von den Nordmazedoniern kommt auf dem Platz sowie auf der Tribüne nach der Führung der Österreicher wenig – und dann plötzlich doch.

Ein katastrophaler Schnitzer der rot-weiß-roten Hintermannschaft kombiniert mit einer gehörigen Portion Pech für Daniel Bachmann ermöglicht dem EM-Debütanten den Ausgleich. Goran Pandev steht gold-richtig und schließt zum 1:1 ab – wer sonst? Die Geschichte rund um den Alt-Star darf auch als Reporter, der der österreichischen Mannschaft die Daumen drückt, zu Recht als kitschig schön beschrieben werden. Wie auf dem Feld explodieren auch die Emotionen bei den Fans und der Jubel kennt keine Grenzen mehr. Fußball ist nun nach über eineinhalb Jahren endgültig zurück in den Stadien.

In der Folge merkt man der österreichischen Mannschaft den Schock sichtlich an. Die breite Brust schrumpft und David Alaba bekommt den Ball von seinen Vorderleuten ebenso wie Daniel Bachmann vermehrt zurückgespielt. Und während Nordmazedoniens Blondschopf Alioski von Leeds United immer mehr Sympathien verspielt, aber dafür umso mehr Adrenalin aufbaut, tüftelt Franco Foda bereits an der Außenlinie. 13 Minuten nach Wiederanpfiff bringt der Teamchef unter dem großen Jubel der österreichischen Fans Marko Arnautovic und Michael Gregoritsch aufs Feld. Sasa Kalajdzic und Christoph Baumgartner beenden überschaubare EM-Debüts.

Man will sich nicht ausmalen, wie diese Zeilen klingen würden, hätten die Nordmazedonier ihre Angriffe konsequent zu Ende gespielt und die Räume, die sich auftaten, genützt. Zugegeben, der Puls des Autors ist ohnedies das gesamte Spiel über konsequent auf 120 – der von Michael Gregoritsch in der 78. Minute dürfte dennoch weitaus höher gewesen sein. Mit einer perfekt getimten Flanke macht David Alaba den Steirer zum EM-Torschützen. Perfekte Antizipation reicht Gregoritsch zum wohl wichtigsten Tor seiner Karriere. Erneut dreht die Stimmung – allen Österreichern fällt ein Stein vom Herzen und auch der so oft kühl wirkende Franco Foda kann seine Emotionen kaum bremsen. Die folgenden 15 Minuten werden zur Show. Andreas Ulmer, der seit seiner ersten Nationalteam-Einberufung nur gelaufen, gelaufen und gelaufen ist, hat erstmals in seiner Karriere alle Zeit der Welt, sich den Ball zum Einwurf zu holen - und so tickte die Uhr für Österreich.

Den Schlusspunkt in Bukarest setzt Marko Arnautovic. Die Ferse von Laimer findet den Angreifer, der sich in den letzten Jahren zum Fan-Liebling mauserte. Dass ausgerechnet der China-Legionär den ersten Sieg bei einer EM fixiert, ist dann übrigens ähnlich kitschig wie Goran Pandevs Premierentreffer. Die Österreicher, die in der Folge von „Oh wie ist das schön“-Sprechchören begleitet, geschickt die Zeit von der Uhr nehmen, liegen sich am Ende allesamt in den Armen. Den historischen Moment durften dann auch noch Julian Baumgartlinger, der von David Alaba umarmt die Kapitänsschleife erhält, und Dauerbrenner Stefan Ilsanker in ihren Lebensläufen notieren.

Und die Nordmazedonier? Sie werden nach dem Spiel von ihren Fans gefeiert, als hätten sie gerade einen Monat später im Wembley gewonnen. Wie die österreichischen Unterstützer ihr Team feiern, tun es ihnen die Süd-Ost-Europäer gegenüberliegend gleich. Die Normalität, sie war wieder da – mit Sprechchören, Toren und lange vermissten Emotionen.