Woran erinnern wir uns? An den ersten Schultag, die erste Liebe, an 9/11, die letzte Mahlzeit und an das Solo von Diego Maradona. An den Irakkrieg, Jörg Haiders Unfall, Tschernobyl, Obama. An Antonin Panenkas Lupfer, einen dänischen Urlaubseuropameister und an Erzählungen über Córdoba.

Fußball gibt uns das Gefühl, an der Weltgeschichte teilzuhaben. Zwar leben wir in einer Zeit, in der das Privatleben dokumentiert und in den sozialen Medien öffentlich gemacht wird, aber wirklich historische Momente sind bei den Katzen-, Kinder-, Karossen- und Kuchenbildern nur wenige dabei. Fußball ist anders, gibt uns das Gefühl, Bedeutendem beizuwohnen.

In einer Geschichte des Atheismus habe ich gelesen, dass der Mensch, will er überleben, etwas braucht, woran er glauben kann, weil das Leben sonst nur noch aus Vergnügen, Konsum und Smartphone-Apps besteht.

An Gott zu glauben, wird in einem vermessenen Universum mit beschränkter Lebensdauer immer schwieriger. Also bastelt sich der Mensch aus Esoterik, Astrologie und fernöstlicher Möbelstandort-Philosophie eine Privatreligion. Andere glauben an Verschwörungstheorien, Greta Thunberg oder dass Herbert Kickl ein gutherziger Pferdestreichler ist. Für viele aber ist Fußball der geeignete Religionsersatz. Man pilgert zu Spielen, verehrt den heiligen Rasen, spricht von Spielzügen für die Ewigkeit und erlösenden Momenten. Die Hostie muss in die Apsis, Predigten werden in der Kabine gehalten, Rot-Sünder landen in der Hölle, oder auf der Tribüne, und die zwölf Apostel sind nur elf, können aber, man hat aus dem Fall Judas gelernt, ausgewechselt werden.

Tiefe Trauer: Fußball ist eine emotionale Achterbahnfahrt
Tiefe Trauer: Fußball ist eine emotionale Achterbahnfahrt © imago/Sven Simon (Elmar Kremser/SVEN SIMON)

Oft ist Fußball ein litaneiartiges Ball-Herumgeschiebe und so aufregend wie Schneckenbingo, bei dem sich Hobbygärtner die Anzahl der mit einer Schere erledigten Nacktschnecken zurufen. Was würden Außerirdische denken, wenn sie auf die Erde kämen und als Erstes ein Fußballspiel sähen? Weißrussland gegen Luxemburg 0:0. Sie könnten den Sinn nicht begreifen und denken, die Menschen würden einem abstrusen Kult des Zeittotschlagens frönen. Bekämen sie aber ein 4:3 zwischen Frankreich und England zu sehen, würden auch sie die Faszination spüren, das Hin- und Herwogen zweier Kräfte, Sturmläufe, die an Abwehrketten zerschellen, geniale Momente, in denen die Gesetze der Schwerkraft außer Kraft gesetzt sind, sich der schicksalhafte Lauf der Welt auf neunzig Minuten plus Nachspielzeit verdichtet.

Fußball ist wunderbar, erhebend, eine Sprache, die man auf der ganzen Welt beherrscht, außer in den USA. Milliarden Gläubige. Aber wie bei jeder Kirche, wenn sie zu groß und mächtig geworden ist, gibt es auch beim Fußball Korruption, Missbrauch und Fehlentwicklungen. Je mehr man im Dreck umrührt, desto mehr stinkt es. Und die Verantwortlichen haben keine feine Nase, nicht mehr alle Borsten auf dem Schwein. Kaum noch Spiele im Free-TV, völlig überzogene Gehälter und Ablösen, dazu Pläne, die arme Wuchtl-Haut auf den Markt zu tragen, bis sie platzt: Super League, Weltmeisterschaften in der Wüste und jetzt eine zerstückelte EM. Noch mehr Werbeflächen für Sponsoren. Dass dabei die Party auf der Strecke bleibt, nimmt man ungeniert in Kauf.

Unbändiger Jubel nach dem Tor
Unbändiger Jubel nach dem Tor © APA/FLORIAN ERTL (FLORIAN ERTL)

Trotzdem ist Fußball nicht umzubringen, wird auch diese Euro ein Fest mit Public Viewing und coolen Spielen. Großereignisse sind Maikäfer, die als Engerlinge vier Jahre blind durch die Erde kriechen, dann Flügel bekommen, sich in die Lüfte schwingen und die Welt bebrummen. Wenn sich keine Cluster bilden, lässt uns die Euro sogar Corona vergessen. Die kuriose Zeit des maskierten Stillstands wird schnell verdrängt sein, zumindest bei denjenigen, die sie schadlos überstanden haben. Erinnerung ist faszinierend. Man gedenkt Gerichten aus der Kindheit und ist enttäuscht, wenn sie plötzlich anders schmecken. Ich mag es zum Beispiel überhaupt nicht, wenn meine Mutter plötzlich mit Ingwer und Kurkuma experimentiert, bei gefülltem Paprika das Faschierte fehlt oder in der Rindsroulade Fenchel steckt.

Fußball ist wie Kochen. Es gibt stets die gleichen Zutaten, aber herauskommen tut immer etwas anderes. Insofern hat man als an Schonkost gewöhnter Fan immer Hoffnung auf einen kulinarischen Ausreißer. Vielleicht brennt in der Abwehr mal nichts an, geht dem Mittelfeld etwas auf, was dann der Sturm cremig versüßt. Freilich haben wir Österreicher oft einen Einheitsbrei vorgesetzt bekommen, den hinunterzuwürgen zwar jede Lust, aber nie den Hunger endgültig verdorben hat.

Wahrscheinlich werden wir auch diesmal wieder als Erstes heimkommen und nicht als Erster. Wobei von Heimkommen keine Rede sein kann, wegen des paneuropäischen Käses bleiben diesmal alle zu Hause. Wenn das Team wenigstens versuchen würde, eine Gaumenfreude zu kreieren, täten wir schon mit der Zunge schnalzen. Und sei es nur eine Räuberleiter bei einem Eckball oder ein genialer Freistoßtrick. Auch Dressen aus Solarzellen wären interessant, die könnten den ermüdeten Muskeln leichte Stromstöße verpassen. Am Ende der Saison wird sich zeigen, wer die meisten Körner im Tank hat, hat Marcel Sabitzer letzten Herbst verkündet. Zwar ist nicht klar, was er damit genau gemeint hat, aber bei Österreichs Team sind die Körner traditionell eher im Getriebe. Vielleicht bräuchten die Spieler im Tank besser OMV (Eierlikör mit Kernöl)? Fußball ist Religion: Man glaubt und hofft auf Unsterblichkeit, um sich am Ende meist zu wundern.

Letztlich kommen immer die gleichen in den Himmel: Frankreich, Deutschland, Spanien. Aber bestimmt sind ein paar Spiele dabei, an die wir uns später einmal gern erinnern werden. Amen. Oder Mahlzeit.