"Das zweite Schwert. Eine Maigeschichte" heißt das eben ausgelieferte Buch, und es spielt zur Zeit der französischen Osterferien. Der Erzähler, wiewohl eben erst von einer längeren Abwesenheit nach Hause gekommen und glücklich über sein ihm Heimat gewordenes Refugium südlich von Paris, wird unruhig und will schon wieder aufbrechen. Einem längeren, pathetischen Aufbrechen folgt der Beginn einer kleinen Reise. Das kommt dem Leser aus einigen von Handkes Büchern sehr bekannt vor, und genauso hat auch sein letzter Roman begonnen, "Die Obstdiebin oder Einfache Fahrt ins Landesinnere". Zwei Dinge sind diesmal anders. Der Dichter stellt seinen Hang zur Selbststilisierung mehr als sonst ins Zentrum der Geschichte. Und der Erzähler nimmt die neue Straßenbahn.

Seit Ende Mai 2016 führt die hochmoderne Pariser Straßenbahnlinie 6 aus dem tiefen Untergrund in der Nähe von Handkes Wohnort auf ein Hochplateau im Süden von Paris. Schon kurz nach ihrer Eröffnung lässt Handke seinen Erzähler die kathedralenartig in die Tiefe getriebene Station betreten und mit einer der neuen Tram-Garnituren seine Reise antreten. So schnell ist einem neuen Pariser Verkehrsmittel wohl noch nie ein Auftritt in der Weltliteratur beschert worden. Staunend wie ein kleines Kind beschreibt der Erzähler seine Trambahn-Fahrt, und wenn er dabei einige mitfahrende Kinder beschreibt, muss man unwillkürlich an "Zazie dans le Metro" denken, den kürzlich neu übersetzten Roman von Raymond Queneau.

Doch der Erzähler hat zwei Gesichter. Das andere offenbart er gleich im Anfangssatz: "'Das also ist das Gesicht eines Rächers!', sagte ich zu mir, als ich mich an dem bewußten Morgen, bevor ich mich auf den Weg machte, im Spiegel ansah." Es ist eine kriegerische Selbstbeschwörung vor einem "Rachefeldzug", zu dem er im dreiteiligen blauschwarzen Dior-Anzug, einem "von eigener Hand frischgebügelten weißen Hemd" und einem breitkrempigen Borsalino samt Bussardfeder im Hutband aufbricht. Es ist ein modernes Don Quichotte-Outfit, und immer wieder hat man bei solchen Beschreibungen den Eindruck, Handke mache sich über Erscheinung und Gehabe seines Alter Ego auch ein wenig lustig. Als er am Ende seines langen Reisetags heimkehrt und sich dabei wegen Bahn-Baustellen nicht wie geplant in Zügen, sondern in Riesenumwege nehmenden Ersatzbussen wiederfindet, entfährt es ihm: "Wo bist du, Homer der Ersatzbusse?" Und wer genau liest, begegnet nicht nur Cervantes und Homer, sondern auch Tolstoi wieder.

Der Anlass für die "späte Rache" wirkt lächerlich und wird erst in der Mitte der Geschichte erzählt: Vor Jahrzehnten hat eine Journalistin nicht nur behauptet, die Mutter des Erzählers habe den "Anschluss" 1938 begeistert begrüßt, sondern dies auch mit einer Fotomontage illustriert. Aus welchem Grund nun plötzlich der Tag der Rache gekommen sein soll, wird nie ganz klar. Doch der Sohn, der das Andenken der "heiligen Mutter" beschmutzt sieht, kennt die Wohnadresse der Übeltäterin und bricht zur Heimsuchung auf. Wohl niemand, der da nicht an Handkes Fehde mit den ihm das Übel schlechthin repräsentierenden Vertretern der Presse denkt! Schließlich hat er die letzten Korrekturen zu "Das zweite Schwert" (der Titel bezieht sich auf ein dem Buch vorangestelltes, vieldeutiges Zitat aus dem Evangelium nach Lukas, über dessen metaphorischen Gehalt viel geschrieben wurde) unmittelbar vor seinem Aufbruch nach Stockholm vorgenommen.

Doch die Konfrontation mit seiner Feindin findet nicht statt. Der Erzähler biegt ab. Und landet bei der Abtei Port-Royal-des-Champs südwestlich von Versailles und bei Blaise Pascal, der hier wohnte. Bei der Heimreise verschlägt es ihn dann in eine alte Endstations-Gaststätte "wie nur je eine" (eine von Handkes Lieblingswendungen, gleichauf mit "So war es gedacht."), wo anscheinend ein Fest gefeiert wird. Kurz kommt ihm die Übeltäterin wieder in den Sinn. Und er beschließt, sie nicht zu attackieren, sondern sie zu ignorieren. "Das war und ist Rache genug. Wird genug an Rache gewesen sein, amen. Nicht das Schwert aus Stahl, sondern das andere, das zweite." Und vielleicht könnte dies ja auch das Zauberwort für die weiter schwelende Auseinandersetzung des Dichters mit dem Rest der Welt sein: Lass stecken, Peter!