Es war eine Nacht, die in die Annalen der heimischen Innenpolitik eingehen wird. Nach dem Rundumschlag von Grünenchef Werner Kogler am Freitagabend in der „Zeit im Bild“ gegen das, wie er es formuliert hat, „türkise Machtzentrum“, das ein „erschütterndes, erschreckendes, ja schauerliches Sittenbild“ abgebe, zogen sich ÖVP-Chef Sebastian Kurz und seine engsten Getreuen im Kanzleramt zurück: Bernhard Bonelli, Stefan Steiner, Alex Melchior, Gerald Fleischmann, die Minister Elisabeth Köstinger, Karl Nehammer, Gernot Blümel, Johannes Frischmann waren nicht zugegen. In einer mehrstündigen Sitzung warfen Kurz und Co. ihre bisherige Strategie über Bord – frei nach Konrad Adenauer: „Was interessiert mich mein Geschwätz von gestern? Nichts hindert mich, weiser zu werden.“

Am Donnerstag hatten auf Geheiß der Parteiführung die türkisen Minister in einer gemeinsamen Erklärung noch beteuert, eine ÖVP-Regierung ohne Sebastian Kurz sei undenkbar. Der denkwürdige Text trägt die Unterschrift aller Minister. Am Freitag tauchten neue Chats auf, die den Kanzler in ein katastrophales Licht rücken – nicht nur wegen der derben Kraftausdrücke über Ex-ÖVP-Chef Reinhold Mitterlehner, sondern auch wegen des Vorschlags, um dem amtierenden Vizekanzler Mitterlehner keinen Erfolg zu gönnen, sollte die geplante Finanzierung der Nachmittagsbetreuung im Ausmaß von 1,2 Milliarden Euro torpediert werden („Bitte! Kann ich ein Bundesland aufhetzen?“). Einige der mächtigen ÖVP-Landeshauptleute sollen sich entsetzt über die Enthüllungen gezeigt und die Frage gestellt haben: Was kommt da noch? Dem Vernehmen nach soll der Druck der Länder auf die Parteispitze im Laufe des Freitags enorm zugenommen haben. Die türkise Erzählung, dies sei alles das Manöver einer politisierten Justiz, die Sebastian Kurz zu Fall bringen will, verfing nicht mehr an der schwarzen Basis.

Verschiedene Optionen

Bis tief in die Nacht wurden in kleiner Runde im Bundeskanzleramt verschiedenste Optionen durchdiskutiert. Langsam dämmerte allen, dass die ÖVP beim Machtpoker mit den Grünen den Kürzeren ziehen dürfte, die Hoffnung, Werner Kogler & Co. würden im letzten Moment vor einer Zustimmung zum Misstrauensantrag zurückschrecken, sich nicht erfüllen wird. Eine Vierparteienkoalition ohne Einbindung der Volkspartei würde künftig das Land regieren – ein Schreckensszenario für alle ÖVP-Landeshauptleute, die auf ein gutes Verhältnis zum Bund angewiesen sind.

Durchgespielt wurde auch die Neuwahlvariante, etwa eine Neuauflage von Türkis-Blau, allerdings ohne Herbert Kickl. Eine der Teilnehmer gab zu bedenken, dass bei Neuwahlen die Corona-Leugner wohl antreten würden, sich Türkis-Blau dann gar nicht mehr ausgehen dürfte.

Bald verfestigte sich die Meinung, dass Kurz das Feld im Bundeskanzleramt räumen und den Weg für einen Alternativkandidaten freimachen müsse. „Ich bin kein Kaiser Nero, der sein eigenes Rom anzündet“, soll Kurz zu später Stunde geraunt haben. Als Nachfolger wurden Innenminister Karl Nehammer und Landwirtschaftsministerin Elisabeth Köstinger ins Spiel gebracht, beide gehören jedoch zum türkisen Machtzentrum. Finanzminister Gernot Blümel schied wegen der laufenden Ermittlungen aus.

Das Rennen machte schließlich Alexander Schallenberg, der jahrelang mit Kurz zusammengearbeitet, allerdings nie Teil des engsten Zirkels war – der SMS-Verkehr dürfte überschaubar sein. Als Außenminister hatte Kurz den Karrierediplomaten zum Leiter der Stabsstelle für strategische Planung gemacht. In der Übergangsregierung von Brigitte Bierlein stieg Schallenberg zum Außenminister auf – und wurde so zum wichtigsten Verbindungsmann des ÖVP-Chefs. Als Kabinettschef fungierte Bernhard Bonelli, einer der wichtigsten Kurz-Berater.

"Wir müssen bitte dringend reden"

Um drei Uhr früh holte Kurz sein Handy hervor und schickte „Schalli“, wie der künftige Bundeskanzler vom Kurz-Umfeld genannt wird, eine SMS: „Wir müssen bitte dringend reden.“ Schallenberg soll sich nach einer Schrecksekunde gemeldet haben, um elf Uhr kamen der alte und der neue Kanzler am Ballhausplatz zusammen. Nach und nach wurden die Landeshauptleute informiert. Um 17.30 Uhr kamen die türkisen Minister zusammen, um 18.30 Uhr wurde der Parteivorstand einberufen. Dazwischen griff Kurz zum Handy und informierte Vizekanzler Werner Kogler wie auch Bundespräsident Alexander Van der Bellen. Warum das nicht früher passiert ist? „Dann wäre es nach außen gesickert“, heißt es dazu.

"Für Dich ändert sich nichts"

In den Abendstunden rief dann Kurz 15 Regierungschefs in und außerhalb Europas durch, um ihnen zu versichern, dass Österreich mit Schallenberg auch ein verlässlicher Partner bleiben würde. Zeitgleich schickte Klubobmann August Wöginger der grünen Klubobfrau Sigrid Maurer ein SMS: „Für Dich ändert sich nichts.“ Will heißen: Im Klub würde das kongeniale Duo „Gust und Sigi“ auch weiterhin die Koordinierung der türkis-grünen Politik vornehmen.