Herr Eisenberg, Sie haben Ihre Memoiren geschrieben. Jetzt schreiben Sie in der Einleitung zwar, wie man so etwas angeht – mit Gottes Hilfe –, aber warum schreibt man so ein Buch eigentlich?

Paul Chaim Eisenberg: Nachdem ich schon zwei Bücher geschrieben hatte – eins über den Witz und ein ABC des Judentums –, wollte der Verlag jetzt Memoiren von mir. Aber es sind ja nicht nur meine Memoiren, es geht auch um meine Eltern und Großeltern und um meine Kinder und Enkelkinder.

Und da gibt es viel zu erzählen. Sie sind 30-facher Großvater. Wie geht sich denn das aus, da noch ein drittes Buch zu schreiben.

Die Kinder sind alle im Ausland, ich besuche sie nur in Gruppen. Drei Töchter wohnen in Israel, ein Sohn ist Rabbiner in Manchester, zwei Kinder leben in Amerika. Da muss man ein bisschen herumfahren.

Ärgert Sie das, dass Ihre Kinder nicht hier in der Stadt leben, in der Sie mehr als 30 Jahre Oberrabbiner waren?

Nein. Sie haben aus verschiedensten Grünen beschlossen, die Stadt zu verlassen. Das gibt mir immerhin die Möglichkeit, in der Welt herumzufahren.

Eine Ihrer Töchter arbeitet ja bei Facebook; Sie haben in einem Interview anlässlich Ihres 70ers gesagt, Sie wollen jetzt Influencer werden. Wie läuft das denn so?

Ich glaube, ich habe das falsch verstanden. Ich will den Leuten ja keine Produkte näherbringen. Ein Rabbiner möchte die Leute beeinflussen, aber nicht, um etwas zu kaufen, sondern indem er sie auf den richtigen Weg bringt.

Was ist denn der richtige Weg?

Ein guter Mensch zu sein.

Was heißt das?

Das wollen Sie wissen?

Es könnte nicht schaden.

Na anderen Menschen zu helfen – aber auch auf sich selbst zu schauen. Wir sind ja keine Masochisten, die sich selbst aufgeben, die nur für die anderen leben. Aber wir wollen nicht nur für uns leben. Und das kann man im kleinen Rahmen in der Familie machen, aber eben auch als Rabbiner – dazu gibt es auch ein ganzes Kapitel in dem Buch: „Wenn der Rabbiner hilft“. Da gibt es fröhliche Tage, wenn man helfen kann, und weniger fröhliche, wenn man nichts tun kann.

Gab es da eine besondere Anekdote, bei der Sie sagen: Da hab ich jemanden auf den richtigen Weg gebracht?

Ich beschreibe in meinem Buch einige Anekdoten von Menschen, die zu mir gekommen sind über die Jahre. Eine Dame wollte zum Beispiel unbedingt die Handynummer von Niki Lauda; der hab ich gesagt, da kann ich nicht helfen, das ist nicht mein Fach. Eine andere wollte, weil sie geschieden war und ihren Sohn nicht sehen konnte, dass ich ihr helfe, das Kind nach Israel zu entführen. Manche Leute machen sich verrückte Vorstellungen. Ich helfe Leuten, man muss ihnen zuhören, damit man auf ihre Wünsche reagieren kann.

Einen Satz habe ich spannend gefunden: „Ein frommer Jude kann so fromm sein, wie er will – ein Rabbiner dagegen muss manchmal Kompromisse machen.“ Was meinen Sie damit?

Die jüdischen Gebote stammen aus der Tora und werden im Talmud im Detail erklärt; da gibt es manchmal eine strengere Auslegung und eine weniger strenge. Heutzutage kann man einem Menschen oft helfen, wenn man ihm sagt, du musst das nicht so streng nehmen. Wenn zum Beispiel ein Fasttag ist und jemand ist krank, sage ich ihm sofort, du musst etwas trinken.

Sie sagen, „heutzutage“ sei das so – hat sich das in den vergangenen Jahrzehnten geändert, wie strenge Maßstäbe man anlegt?

Es gibt da verschiedene Wege; es gibt eine Gruppe sehr orthodoxer Juden, die werden von Generation zu Generation noch strenger. Solange die damit happy sind, sollen sie das machen. Und dann eben auch die, die es sich ein bisschen leichter machen; das ist auch möglich.

Wo stehen Sie auf dieser Skala?

Ich bin sicher kein liberaler Rabbiner, sonst wäre ich nie Oberrabbiner geworden. „Modern orthodox“ nennt man das: Schabbat halten, koscher essen – aber gleichzeitig ein normales, säkulares Leben leben.

Wachsen diese beiden Strömungen, die Liberalen und die Orthodoxen?

Interessanterweise tendiert es in die Extreme – zum ganz Lockeren oder zum ganz Strengen. Mir ist vor allem wichtig, dass niemand dem anderen sagt, wie er zu leben hat.

Ist dieser Trend zu den extremen Positionen ein genereller – auch in der Politik?

Es gibt diese Polarisierung schon, aber gerade in Europa, in der EU muss man sich tendenziell zusammenfinden, weil man eine Mehrheit braucht. Ich habe ja den Traum, dass nach der nächsten Wahl die große Koalition wiederkommt. Es wird sich sonst schwer ausgehen – höchstens mit der FPÖ, aber das möchte ich eigentlich nicht. Aber ich will nicht zu viel über Politik sprechen.

Warum eigentlich nicht?

Bei uns in der Kultusgemeinde spricht der Präsident über politische Fragen, der Rabbiner hat andere Aufgaben.

In Ihrem Buch erzählen Sie eine Anekdote, dass Ihr Vater – vor Ihnen Oberrabbiner – von ausländischen Gästen so oft gefragt wurde: „How is the situation with antisemitism in Vienna?“, dass er irgendwann begonnen hat, die Antworten auf seine Visitenkarten zu ducken. Was stünde dazu auf Ihren Visitenkarten?

Auf meinen Visitenkarten steht vor allem, dass die Regierungen inzwischen die Verantwortung für Dinge sehen – auch für Dinge, die sie gar nicht selber getan haben. Vor Kurzem gab es zum Beispiel eine Gedenkveranstaltung vor der Synagoge in der Seitenstettengasse 40 Jahre nach dem Anschlag dort. Man muss immer wachsam sein, aber man kann nicht sagen, alle Österreicher sind Antisemiten, das wäre übertrieben.

Sie waren während des Anschlags 1971 als Rabbiner im Tempel, vor den Toren starben zwei Menschen. Hat Sie dieser Anschlag verändert?

Wir wurden vorsichtiger. Wir haben Polizeischutz und Security – aber ich bin ein unverbesserlicher Optimist.

Eines der Opfer, eine junge Frau, war erst vor Kurzem zum Judentum konvertiert. Aus Ihrem Buch lerne ich, wer konvertieren will, muss in einem Gespräch gewarnt werden, dass das gefährlich werden könnte. Schreckt das – vor der Gefahr solcher Anschläge – ab?

Die, die schon Juden sind, nicht. Und oft sind Menschen, die konvertieren, gefestigter in ihren Überzeugungen.

Wie lebt es sich als jemand, der den Witz liebt, im grantigen Wien?

Ein Grant ist nicht gefährlich. Es ist besser, grantig zu sein, als dass man sich einer extremen Gruppe anschließt. Man muss das mit Humor nehmen.

Gibt es zum Abschluss einen Witz, den Sie unseren Leserinnen und Lesern mitgeben möchten?

Muss es denn immer ein Witz sein? In diesem Buch wollte ich eigentlich zu ernsteren Themen hin. Mir gefallen die Anekdoten inzwischen besser als Witze.

Dann eine Anekdote.

Als vor 150 Jahren die erste Dampflok in die Stadt kam, kamen die Gemeindemitglieder zu ihrem Rabbi und sagten: „Wir wollen dir etwas Neues zeigen.“ Der sagte: „In der Bibel steht, unter dem Himmel gibt’s nichts Neues.“ Da zeigten sie ihm die Lokomotive – „da kommt Rauch heraus und die zieht die Waggons hinter sich her“. Der Rabbi sagte: „Seht ihr, nichts neues. Ich hab immer gesagt, wer Feuer in sich hat, kann viele andere mitziehen.“