Immer, wenn die Regierungsparteien in den Sonntags- oder Vertrauensumfragen verlieren - und das tun sie derzeit ziemlich deutlich -, taucht in der linken Reichshälfte recht verlässlich die Idee einer Regierung ohne ÖVP-Beteiligung auf: Eine Koalition SPÖ-Grüne-Neos als Mitte-links-Projekt, die die Volkspartei nach fast 35 Jahren in der Regierung (ihre Zeit dort seit 1986 wurde nur durch die parteilose Regierung Bierlein 2019/20 ein halbes Jahr unterbrochen) auf die Oppositionsbänke verbannt.

Zuletzt wurden solche Schlachtpläne hinter vorgehaltener Hand anlässlich der schlechten Stimmung in der türkis-grünen Koalition wieder lauter: Nicht nur die zähe Krisenbekämpfung zehrt an den Nerven und sorgt für Misstrauen unter den Koalitionspartnern, in den vergangenen Wochen kamen mit dem Streit um die Abschiebung von Kindern, den Korruptionsermittlungen gegen ÖVP-Politiker und -nahe Beamte sowie den aufgetauchten Chatprotokollen gleich eine Vielzahl an Konfliktfällen auf.

Dass die Grünen dennoch treu zur Koalition stehen, hat - neben ihren eigenen Umfragewerten, die ebenfalls nicht berühmt sind - einen recht pragmatischen Grund: Selbst wenn die ÖVP bei einer eventuellen Neuwahl (einen "fliegenden Wechsel" zu einem anderen Koalitionspartner haben alle möglichen Seiten ausgeschlossen) einige Prozentpunkte verlieren würde, wie es aktuelle Umfragen in den Raum stellen, würde weiterhin kein Weg an ihr vorbeiführen, um eine regierungsfähige Mehrheit zu bilden.

Der Wiener Politikwissenschaftler Laurenz Ennser-Jedenastik schrieb dazu vor einigen Wochen (als wieder einmal die rot-grün-pinke Vision umging): "Eine linksliberale Mehrheit gibt es seit mehr als zehn Jahren in Umfragen nicht  - im Nationalrat schon seit 1983 nicht mehr".

Sprich: Wenn man die Stimmanteile von ÖVP und FPÖ zusammenzählt, kommen diese seit mehr als einem Jahrzehnt auf eine Mehrheit klar über 50 Prozent der Stimmen - freilich in wechselnden Zusammensetzungen: Vor der Übernahme der Partei durch Sebastian Kurz Anfang 2017 lag die FPÖ öfters über 30 Prozent, die ÖVP nur noch um die 20; in einer aktuellen Umfrage läge die ÖVP bei 36, die FPÖ nur um die 15 Prozent.

"Das heißt nicht, dass Wählerinnen und Wähler nur zwischen diesen beiden Parteien wechseln", sagt Ennser-Jedenastik zur Kleinen Zeitung; in Summe sei dieses "Lager" aber "sehr stabil".

Für die übrigen Parteien bleibt damit nur ein Stimmanteil unter 50 Prozent - und damit nur geringe Chancen auf eine linksliberale Koalition: "Wer das erreichen will, muss Stimmen von VP/FP holen", sagt der Politikwissenschaftler: "Ich würde bezweifeln, dass ein "Lagerwahlkampf" dazu taugt".

Was die Position der ÖVP angesichts dieser Ausgangslage so stark macht, ist die Weigerung aller anderen Parteien, eine Zusammenarbeit mit der FPÖ in Betracht zu ziehen: Solange das so bleibt (und eine Änderung dieser "Vranitzky-Doktrin" in der SPÖ ist nicht in Sicht, geschweige denn bei den Grünen, die der FPÖ praktisch diametral gegenüberstehen) und sich die "Lager" links und rechts der Mitte in der Bevölkerung nicht verschieben, lebt die ÖVP in der polittaktisch relativ komfortablen Lage, dass ohne sie keine Mehrheit möglich ist.