Jetzt ist es also doch passiert. Macron hat keine Ruhe gegeben, EP-Präsident David Sassoli ist nicht gerade als Widerstandskämpfer bekannt und außerdem ist eh bald Sommer: Derzeit tagt das EU-Parlament nach 15 Monaten zum ersten Mal wieder genau da, wo es laut den Verträgen sein sollte, in Straßburg nämlich.

Also nur bedingt, wenn man genauer schaut. Von den 705 Abgeordneten ist gerade einmal die Hälfte ins Elsass ausgerückt, der Rest blieb lieber daheim oder in Brüssel. Ich auch, es macht keinen Unterschied: Weil Plenum und Abstimmungen ohnehin noch virtuell abgewickelt werden, kann man genausogut im Home office auf den halbleeren Saal schauen. Halbleer ist auch der gesamte Gebäudekomplex in Straßburg, auch ein Großteil der Beamten und Mitarbeiter der Büros ist gar nicht erst gekommen. Zu chaotisch ist nach wie vor das über Europa gespannte Netz aus Quarantänen, Tests und Onlineformularen. Immerhin gab es ein Lockmittel: wer will, kann sich in Straßburg impfen lassen, mit dem Einmal-Shot von Johnson&Johnson, wie man hört. Aber viele Restaurants und Hotels sind dennoch zu. Und die Impfungen kommen inzwischen ja überall auch so voran.



Gleich zum Auftakt gab es einen netten kleinen Treppenwitz für die EU-Geschichte. Gastgeber Frankreich will ja nicht nur, dass Straßburg als Parlamentssitz auf Biegen und Brechen erhalten bleibt, die Franzosen hätten auch gerne, dass die ganze EU wieder etwas frankophoner wird. Trotz Brexit wird ja mehr auf Englisch kommuniziert als auf Französisch. Wenn nächstes Jahr Frankreich den Ratsvorsitz von den Slowenen erbt, werden die Sprachkurse gleich ausgebucht sein, in Paris sind sie da ein bissl eigen. Jedenfalls hat es sich ergeben, dass auch die Dolmetscher in Brüssel oder sonstwo sitzen und gleich einmal das ganze technische System in die Knie gegangen ist. Schachmatt. Lösung wäre gewesen, zunächst einmal die ganze Sitzung ausschließlich auf Englisch weiterzuführen – ausgerechnet am ersten Tag nach Langem wieder in Straßburg. Hat sich dann zum Glück doch noch vermeiden lassen.

Bei den heftigen Debatten geht es schon wieder um so viele unterschiedliche Themen, dass man gar nicht weiß, wo anfangen und wo aufhören. Russland, Biodiversität, Cybersecurity, Impfpatente, Käfighaltung und Vieles mehr. Was immer alle interessiert: Gestern wurden mit riesiger Mehrheit die Gesetzesentwürfe für das EU-Corona-Zertifikat vulgo Grüner Pass gebilligt. Dennoch nicht mit allen Stimmen. ÖVP, SPÖ und NEOS sind voll dabei, die FPÖ ist dagegen - neben dem generellen „gefährlichen Vorstoß hin zu einer Zweiklassengesellschaft, die aus Geimpften und Nichtgeimpften besteht, müsse man schon ernsthaft die Sinnhaftigkeit des Zertifikats in Frage stellen“, meinen sie. Das war jetzt nicht so überraschend. Leicht irritierend hingegen, dass sich die österreichischen Grünen beim Grünen Pass der Stimme enthielten. Laut Abgeordneter Sarah Wiener, weil es „unsicher ist, ob das Virus noch von Geimpften und Genesenen übertragen werden kann“. Es handle sich um eine „ethisch-moralische Frage“. Vielleicht sollte Parteikollege Mückstein, Arzt und Gesundheitsminister, bald einmal nach Brüssel auf Besuch kommen, da könnte man das dann näher erörtern.

Was sonst noch läuft: Das EU-Parlament will die EU-Kommission verklagen, weil eine Frist nicht eingehalten wurde. Dabei geht es um den Vorwurf der Untätigkeit in Sachen Rechtsstaatsmechanismus, im Zentrum stehen wieder Polen und Ungarn. Das alles gilt seit Jahresbeginn, spätestens am 1. Juni hätte die Kommission aktiv sein müssen, meint man im Parlament. Mittendrin in der Debatte: Budgetkommissar Johannes Hahn. Heute Nachmittag sagte er in Straßburg, er lasse sich nicht Inaktivität vorwerfen: „Ich war schon da, wir wir gerungen haben um die europäische Staatsanwaltschaft oder um die Olaf-Reform.“ Als Regionalkommissar habe er sich genug ärgern müssen und sei 2018 auch an der Entwicklung der Rechtsstaats-Konditionalität beteiligt gewesen. „Glauben Sie mir: ich bin bis unter die Haarspitzen motiviert, dass das alles umgesetzt wird.“ Nachsatz: „Aber nur so, dass es funktioniert.“ Unser Tipp: Kommende Woche legt die Kommission neue Richtlinien vor, die Klage wird als Schuss vor den Bug gelten und letzten Endes begraben werden.

Die Pandemie hat viele negative Effekte gehabt, einen leider nicht: der Drogenkonsum ist in Europa auch im Pandemiejahr nicht zurückgegangen, sagt der heute von der EMCDDA veröffentlichte Drogenbericht 2021 aus. Ich habe vor ein paar Wochen die EU-Drogenbeobachtungsstelle in Lissabon besucht, Direktor Alexis Goosdeel erzählte uns damals, dass allein im vergangenen Jahr 46 neue Drogenarten entdeckt worden seien – das ist fast jede Woche eine neue Droge auf dem Markt. Manchmal fragt man sich schon.