Sie waren Präsidentin des UN-Menschenrechtsrats: Macht es Sie nicht wütend, wenn Sie in aller Welt Menschenrechtsverletzungen sehen? Von Myanmar bis Belarus?
Elisabeth TICHY-FISSLBERGER: Jemand hat einmal gesagt, man sollte einem Apfel nicht vorwerfen, dass er keine Orange ist. Der Menschenrechtsrat ist ein diplomatisches Gremium. Man sollte ihm also nicht vorwerfen, dass er kein internationaler Gerichtshof ist und auch keine Schnelleingreiftruppe. Wütend zu sein, würde nicht viel bringen. Diplomatie ist ein auf längere Zeit angelegtes Wechselspiel zwischen dem Miteinander-so-zivilisiert-umgehen, dass man immer in Kontakt bleibt, und dem Einander-trotzdem-die-Meinung-sagen und zwar so, dass sie der anderen Seite einen Anreiz bietet, Änderungen vorzunehmen, ohne das Gesicht zu verlieren.

Was kann der UN-Menschenrechtsrat schaffen etwa im Fall Nawalny, in Myanmar, in Belarus?
Elisabeth TICHY-FISSLBERGER: In allen drei genannten Fällen gibt es Sonderberichterstatter des Menschenrechtsrats, die einiges ans Tageslicht gefördert haben, das die Mächtigen in den betroffenen Ländern ganz offensichtlich stört. Die sehr nachdrückliche Stimme des Myanmar-Sonderberichterstatters Thomas Andrews konnte in den letzten Wochen sicherlich niemand überhören. Dem Fall Nawalny hat sich die gleiche Sonderberichterstatterin gewidmet, die ihre Untersuchungsergebnisse zur Ermordung des saudischen Journalisten Jamal Kashoggi veröffentlicht und die später auch die Tötung des iranischen Generals Soleimani erforscht hat – Agnes Callamard, eine unbestechliche und sehr mutige Dame.

Und Belarus?
Elisabeth TICHY-FISSLBERGER: Bei der Tagung des Menschenrechtsrats im März wurde ein Verfahren eingeleitet, das dafür sorgen soll, dass die Verantwortlichen eines Tages zur Verantwortung gezogen werden. Bis die Arbeit in diesem Rahmen aufgenommen wird, unterstützt Österreich eine zivilgesellschaftliche Plattform europäischer und belarussischer NGOs, die Beweise über schwere Menschenrechtsverletzungen in Belarus sammelt. Denn eines ist klar: Auch in diesem Fall darf es keine Straffreiheit geben.

Sind Resolutionen das stärkste Druckmittel?
Elisabeth TICHY-FISSLBERGER: Jedenfalls das meist benutzte Druckmittel des Menschenrechtsrats. Sie sind zwar rechtlich nicht verbindlich, politisch aber ein durchaus starkes Instrument. Das lässt sich schon an der Verbissenheit erkennen, mit der die meisten der kritisierten Länder darum kämpfen, Resolutionen zu verhindern oder abzuschwächen. Als Erfolgsgeschichte der letzten Zeit ließe sich der Regierungswechsel in Sudan nennen, der auch dank der steten Aufmerksamkeit im Menschenrechtsrat erreicht werden konnte. Heute sitzt der ehemalige Präsident Bashir im Gefängnis des Internationalen Strafgerichtshofs in Den Haag.

Pakistan oder Eritrea glänzen nicht durch besondere Einhaltung der Menschenrechte – dennoch sind auch diese Staaten im UN-Menschenrechtsrat vertreten. Wie ist das zu bewerten?
Elisabeth TICHY-FISSLBERGER: Der Menschenrechtsrat setzt sich aus Vertretern der fünf Weltregionen zusammen, denen jeweils eine fixe Zahl von Sitzen zugeordnet ist. Wer in Vertretung einer Region kandidiert, handeln jeweils deren Länder aus. Ich persönlich glaube, dass es keine gute Idee wäre, Staaten ganz auszuschließen, deren Menschenrechtslage eher zu wünschen übrig lässt. Das würde sie sozusagen in den diplomatischen Schmollwinkel drängen. Es bringt mehr, mit ihnen zusammenzuarbeiten und sie immer wieder mit ihren Unzulänglichkeiten zu konfrontieren. Steter Tropfen höhlt bekanntlich manchmal durchaus den Stein.

Gibt es ein Land auf der Welt, das gewissermaßen ein Musterschüler in Bezug auf Menschenrechte ist?
Elisabeth TICHY-FISSLBERGER: Den einen Musterschüler gibt es nicht. Der frühere EU-Menschenrechtsbeauftragte Stavros Lambrinidis brachte das auf die Formel: „Niemand ist perfekt, aber manche sind weniger imperfekt als andere“. Das dürfen wir in Europa schon für uns in Anspruch nehmen. Und etliche andere Länder - zumeist auch in der westlichen Welt – haben ebenfalls hohe Standards. Nur: das Hauptaugenmerk des Menschenrechtsrats richtet sich weder auf die „Musterschüler“ noch auf die beharrlichen Verweigerer, sondern auf die große Masse der Staaten dazwischen, die oft nicht viel Geld und vielleicht auch nicht viel Personal haben, aber immerhin einen gewissen politischen Willen, die Situation zu verbessern. Ihnen versucht der Menschenrechtsrat unter die Arme zu greifen.

Der UNO wird in der Coronakrise vorgeworfen, völlig versagt zu haben. Haben die Kritiker recht?
Elisabeth TICHY-FISSLBERGER: Es gibt zur Zeit kaum eine Organisation, der nicht vorgeworfen würde, in der COVID-19 Krise versagt zu haben. Da kann man nur Nestroy zitieren: „Hint'n nach ist ein jeder ein Prophet“. Die WHO musste den schwierigen Drahtseilakt schaffen, mit China pfleglich umzugehen, damit es alle vorhandenen Informationen über das Virus zur Verfügung stellt, und gleichzeitig völlig neue Wege zu gehen.

Und?
Elisabeth TICHY-FISSLBERGER: Immerhin hat man mit COVAX Neuland betreten und sichergestellt, dass alle Staaten - auch die ärmeren - Impfstofflieferungen erhalten. Die WHO hat mittlerweile einen doppelten Prozess eingeleitet: Einerseits versucht man - wenn auch nicht ohne Schwierigkeiten - herauszufinden, wie diese Krise entstanden ist, und dabei faktenbasiert vorzugehen. Andererseits ist man bemüht, sich für die Zukunft besser aufzustellen.

Sie haben sich in Ihrer Zeit als Präsidentin sehr für die Rechte von Frauen eingesetzt. Was ging Ihnen durch den Kopf, als eine Schweizer Zeitung einen Artikel über die neue WTO-Chefin, Ngozi Okonjo-Iweala, eine Harvard-Absolventin, betitelte mit „Diese Großmutter wird Chefin der Welthandelsorganisation“?
Elisabeth TICHY-FISSLBERGER: Da es sich um eine deutschsprachige Zeitung handelte, und ich zur Zeit die einzige deutschsprachige Botschafterin in Genf bin, habe ich meinen Genfer Kollegen, die diese Schlagzeile - wie ich - geschmacklos und unprofessionell fanden, vorgeschlagen, unserer Empörung in einem Leserbrief Ausdruck zu verleihen. Diesen haben Vertreter von über 120 Ländern bzw. internationalen Organisationen mitunterzeichnet.

Was braucht es da noch? Noch ein paar 100 Jahre?
Elisabeth TICHY-FISSLBERGER: Um das zu wissen, müsste man Prophet sein. Die richtige Antwort liegt wohl in einem Bündel Faktoren, die je nach Region unterschiedlich sein müssten. Eines aber ist klar: Im Laufe der Zeit entwickelt jede Gesellschaft neue Gewohnheiten. Wenn sich erst einmal alle daran gewöhnt haben, dass – wenn auch nicht alle – Frauen auch alles das können, was – ebenfalls auch nicht alle – Männer können, wird man nicht mehr in Schubladen für Frauen und Schubladen für Männer denken.

Ist die Welt durch die Coronakrise aus den Fugen geraten?
Elisabeth TICHY-FISSLBERGER: Die Fugen, aus denen die Welt geraten sein könnte, werden ja sehr häufig bemüht. Aber denken Sie an Kennedy: Jede Krise ist auch eine Chance. In der Geopolitik gibt es zur Zeit zweifelsohne gewisse tektonische Verschiebungen. In solchen Situationen blühen zumeist falsche Prognosen. Daran möchte ich mich lieber nicht beteiligen.

Wie kommen wir da wieder heraus?
Elisabeth TICHY-FISSLBERGER: Ich glaube, wir sollten uns vor allem nicht so von den neuerdings kolportierten Narrativen einschüchtern lassen, dass der Westen auf dem absteigenden Ast ist. Ich kenne niemanden, der nicht lieber in einer offenen Gesellschaft leben würde, die auf Demokratie, Rechtsstaatlichkeit und Menschenrechten beruht. Wir sollten unsere Werte und unsere Grundsätze beharrlich verteidigen und gleichzeitig kreativ auf neu entstehende Probleme anwenden – etwa auf all die Bereiche, die gerade durch neue Technologien durchgerüttelt werden.