Das war gewagt. „Können Sie Kanzler?“, wollte die „Süddeutsche Zeitung“ zuletzt von Olaf Scholz wissen und hatte eine Besonderheit parat: Im Format „Interview ohne Worte“ darf nur mit einer Geste geantwortet werden, und so entschloss sich der SPD-Kanzlerkandidat zu einer kleinen Provokation: Scholz formierte seine Hände zur Merkel-Raute.


Das war riskant. Aber selbst die SPD-Anhänger blieben still. Die gern flatterhafte SPD zeigt sich ohnehin ungemein geschlossen in diesem Wahlkampf. „Wir sind eine Partei, die zusammensteht“, hatte Scholz zum Auftakt der Kampagne erklärt und ergänzt: „Ich bewerbe mich für das Amt des Bundeskanzlers, weil ich überzeugt bin: Ich kann das.“

Der überparteiliche Mann mit der Merkel-Raute


Das war im August vergangenen Jahres. Der Satz klang damals reichlich keck. Die SPD klemmte in Umfragen bei unter 20 Prozent. Scholz aber machte früh eine eigene Rechnung auf. Erstmals in der bundesdeutschen Geschichte steht ein regierender Kanzler nicht mehr zur Wahl. Scholz erkannte die Chance der Sedisvakanz und die tiefe deutsche Angst vor Veränderung.So wurde aus dem Sozialdemokraten Scholz nach und nach der überparteiliche Mann mit der Merkel-Raute, der auch ungebundene Wähler ansprach.

Scholz führt im Kern einen perfekten Unionswahlkampf – bis hinein in die Sprache. „Für gute Arbeit und gute Löhne“, plakatierte die Union vor vier Jahren. „Gute Arbeit. Faire Löhne“, heißt es heuer leicht abgewandelt bei der SPD. Vor allem aber setzt Scholz auf Persönlichkeit und unangefochtene Popularitätswerte – ganz wie Merkels letzte Kampagne vor vier Jahren. „Klug. Besonnen. Entschieden. Damit unser Land auf dem Erfolgsweg bleibt“, textete die Union damals zu einem Bild von Angela Merkel. „Kompetenz für Deutschland“, klebte die SPD in diesem Jahr in einer ersten Welle zu einem Foto von Olaf Scholz.
Dann wurde mit steigenden Umfragewerten noch einmal nachgelegt. „Kanzler für Deutschland“, steht jetzt auf den Scholz-Plakaten. Vor einem Jahr wäre Scholz dafür noch belächelt worden. Nun gilt: Der Kandidat macht’s. Und er macht’s nicht so viel anders. In Zeiten epochaler Veränderungen bedient Scholz die tiefe Sehnsucht der Deutschen nach Kontinuität.

„Sichere Arbeit“, „faire Mieten“, „stabile Rente“ – die SPD besetzt wertaufgeladene Begriffe, ohne sie konkret mit politischem Inhalt zu füttern. Mit diesen Wohlfühlkampagnen kapert sie den traditionellen Stil der Union („Für Sicherheit und Ordnung“, hieß es vor vier Jahren noch bei der CDU.) Das ist kein Wunder. Die SPD-Kampagne wird von Raphael Brinkert orchestriert, einem früheren CDU-Mitglied, der mit seiner Agentur auch schon den Europawahlkampf der Union begleitet hatte.

Als Merkel-Raute wird eine Haltung der Arme und Hände bezeichnet, bei der die Hände mit den Innenflächen so vor dem Bauch gehalten werden, dass die Daumen und Zeigefinger sich an den Spitzen berühren und in etwa die Form einer Raute beschreiben.
Als Merkel-Raute wird eine Haltung der Arme und Hände bezeichnet, bei der die Hände mit den Innenflächen so vor dem Bauch gehalten werden, dass die Daumen und Zeigefinger sich an den Spitzen berühren und in etwa die Form einer Raute beschreiben. © APA/dpa/Michael Kappeler

Also alles nur geklaut?

So einfach ist es nicht. Die SPD hat sich für diese Kampagne geradezu neu erfunden. Sie bietet heuer die vom Wähler geschätzte Geschlossenheit. Verkehrte Welt in Deutschland.


Scholz und Merkel ähneln sich in vielem. Beide sind eher Außenseiter in ihrer Partei. Beide zeigen sich gegen Widerstände unbeirrt. „Sie weiß, dass man nicht allein auf der Welt ist und mit anderen verhandeln muss. Auch wenn man selbst eine klare Vorstellung hat“, so Scholz über den Stil Angela Merkels. Das klingt wie ein Lob. Ist aber jenseits der Außenpolitik auch das heimliche Eingeständnis, wie sehr man auf Innerparteiliches Rücksicht nehmen muss.


„Nur derjenige ehrt den Meister, der ihn am besten kopiert“, lautet eine Weisheit der Buddhisten. Doch sollte man die Parallelaktion nicht überbewerten. Fallstricke wie Wirecard sind auch nach 16 Jahren im Amt bei Merkel nicht zu finden. Gestern musste sich Scholz dem Finanzausschuss des Parlaments stellen, um Rede und Antwort zu den Ermittlungen gegen die Geldwäsche-Einheit FIU zu stehen.

Scholz weiß, was er will. Respekt, lautet die wichtigste Formel seines Wahlkampfs. Mit der Pandemie ist der Wohlfahrtsstaat zurück, so lassen sich gesellschaftliche Verwerfungslinien der Modernisierung kitten. Das will auch seine linke Parteiführung. Doch Scholz weiß als Finanzminister auch, dass die linken Träume nicht alle zu erfüllen sind. Die Konfliktlinien zwischen dem Pragmatiker als Regierungschef und der linken Führung seiner Partei sind bereits angelegt. „Wer Führung will, bekommt auch welche“, hatte Scholz einmal gesagt. Das war vor seiner Zeit als Kanzlerkandidat. Aber das zeigt: Der Mann kann auch anders. Merkel jedenfalls hätte so etwas öffentlich nie gesagt.