Knapp fünf Wochen vor der Bundestagswahl am 26. September liegt einer vorne, dem das bis vor Kurzem niemand zugetraut hätte.
Die Geschichte geht nämlich so. Seine Frau, die brandenburgische Schulministerin Britta Ernst, schickte Olaf Scholz einst zum Bildungsurlaub auf den Kilimandscharo. Scholz nahm vom Aufstieg auf Afrikas höchsten Berg sehr viel mit. „Sie müssen immer die längere Tour nehmen, langsam anpassen an die Höhe“, beschreibt er seinen Weg auf die Spitze.

Bergwandern bildet. Nicht nur fürs Leben, sondern auch für die Politik.
Der direkte Weg bleibt Olaf Scholz, 63, mitunter verwehrt. Kurt Beck will ihn 2008 zu seinem Nachfolger als SPD-Chef bestimmen, der damalige Bundesarbeitsminister wird ausgebootet. Scholz geht seinen eigenen Weg. Er kehrt zurück in seine Heimatstadt Hamburg und holt dort 2011 für die SPD die absolute Mehrheit.

Als Finanzminister zieht es ihn 2018 wieder nach Berlin. Die SPD-Basis aber verschmäht ihn ein Jahr später als Vorsitzenden.
Zu belastet ist seine Generalsekretärs-Rolle als Agenda-Verteidiger der Reformpolitik Gerhard Schröders.

Scholz schmeißt aber nach der parteiinternen Abfuhr im Dezember 2019 nicht alles hin. Er gräbt sich ein im Finanzministerium.
Acht Monate nach der Niederlage kürt ihn die neue Führung zum Kanzlerkandidaten der SPD. „Olaf hat den Kanzler-Wumms“, sagt Co-Parteichefin Saskia Esken bei der Vorstellung im vorigen August. Sehr lange klingt das sehr verwegen.

Bei 15 Prozent rangiert die SPD im vorigen Sommer. Und bis vor wenigen Wochen ist es dabei auch geblieben. Dann strauchelt erst die Grünen-Spitzenkandidatin Annalena Baerbock.

Kampfkandidaturen

Später liefern sich in der Union Armin Laschet und Markus Söder eine ermüdende Kampfkandidatur, schließlich lässt Laschet in der Flut mit einem unpassenden Lacher nicht nur Anstand, sondern bei der Bewältigung der Hochwasserfolgen auch Führungsqualitäten vermissen.
So überflügelt Scholz die Mitbewerber erst in den Popularitätswerten und zieht auch die im Dauertief verharrende SPD mit nach oben.

In einer Forsa-Umfrage für den Sender RTL liegt die SPD mit 23 Prozent erstmals seit 2006 vor der Union, die auf 22 Prozent kommt. Im Ringen um die Nachfolge Angela Merkels gibt Scholz mittlerweile den dritten Mann: lange unsichtbar, aber die Geschicke bestimmend. Wie sagte es der Kandidat so treffend? „Sie müssen immer die längere Tour nehmen, langsam anpassen an die Höhe.“

„Es wird im Wahlkampf auch um die Merkel-Wähler gehen“, sagte der SPD-Generalsekretär Lars Klingbeil bei der Nominierung des Frontmanns, er fügte hinzu: „Da ist Olaf Scholz genau der richtige Kandidat.“
Scholz versprüht mit seiner hanseatischen Zurückhaltung und stoischen Ruhe eine gewisse natürliche Kanzlerattitüde. Er gibt wenig Privates preis. Er mag Joggen und Rudern. Seine bevorzugte Koalition: SPD, Grüne, FDP. as brachte zuerst etliche Grünen-Wähler ins Grübeln. Die SPD wählen, um Scholz zu bekommen? Das ist ein weiter Weg. Zuletzt aber überrascht manches Statement.

Kohleausstieg

Mit Blick auf den Kohleausstieg beharrt er trotz Klimanotstands auf dem vereinbarten Exittermin 2038. „Wir haben klare Vereinbarungen getroffen.“

Olaf Scholz zielt längst auch auf verunsicherte Wähler der Union, die sich in Zeiten von Klimawende, Digitaltransformation und außenpolitischen Wirren wie in Afghanistan nach innerer Führung sehnen.
Scholz macht auf Merkel und gibt mit seiner präsidial unaufgeregten Art in einer schwankenden Welt den Ruhepol. Das hat nicht allein mit der inneren Gelassenheit des Kandidaten zu tun, sondern auch mit einer ungekannten Eigenschaft der SPD: eine unglaubliche parteiinterne Disziplin. Querschüsse aus den eigenen Reihen, einst ein Merkenzeichen der Partei? Bis jetzt Fehlanzeige. Die SPD nimmt einen eigenen Weg.
Die unruhige Basis hat mit Saskia Esken und Norbert Walter-Borjans die linke Führung, nach der sie sich immer sehnte.

Die beiden, nach außen eher blass, befrieden die Partei nach innen. Der Pragmatiker Scholz gibt das Gesicht nach außen. Und wie zur Beruhigung des innerparteilichen Friedens betont Scholz zuletzt, er strebe im Falle eines Wahlsiegs nicht nach dem Parteivorsitz. „Das ist nicht erforderlich“, stellt Scholz klar. Allen Beteiligten ist klar. Für die SPD geht es nicht nur um die Macht. Für die Partei geht es ums Überleben. Fraglich ist freilich, wie lange die innerparteiliche Ruhe nach dem Wahltag hält.

Noch ist Wahlkampf. Und da hat Scholz bis jetzt zumindest ziemlich viel richtig gemacht.

Mikado-Spiel um die Macht

Er hat sich kaum einen Wackler erlaubt im Mikado-Spiel um die Macht. Das mag auch daran liegen, dass ihn die Mitbewerber wohl lange unterschätzten.

Die nachlässige Aufsicht als Finanzminister im Skandal um den Finanzdienstleister Wirecard hat zwar ein Untersuchungsausschuss im Bundestag beschäftigt. In der Kampagne aber spielt es bisher keine Rolle.

Auch aus Hamburg quälen alte Geschichten. Vom verunglückten G20-Gipfel bis zu Steuerrabatten für eine hanseatische Bank in der Affäre um unrechtmäßige Cum-Ex-Dividendenschiebereien bei Aktiengeschäften – noch bleibt es ruhig.

Auch die von Scholz vorangetriebene globale Mindeststeuer für Weltkonzerne wie Amazon, Google und Apple ist löchrig – bei geringer Umsatzrendite droht die Steuerkasse leer auszugehen.

Dennoch lässt sich Scholz dafür feiern. Nach der Flut besuchte er gemeinsam mit Laschet den verwüsteten Ort Stolberg nahe Aachen. Es regnet während der Pressekonferenz. Laschets Haar klebt klatschnass am Kopf, der Trenchcoat saugt sich voll mit Wasser. Scholz steht daneben in geeigneter Bergwandererjacke. Die Kurzhaarfrisur muss vom Regen nichts befürchten. An dem Mann perlt derzeit einfach alles ab.