Als das Wetter nach ein paar frühsommerlichen Tagen auf Lampedusa wieder stürmisch wird, nächtigen an der Mole im Hafen Hunderte Männer im Freien. Nachdem binnen 24 Stunden über 2000 Flüchtlinge die italienische Ferieninsel erreicht haben, verhindert der Wind weitere Überfahrten aber auch das Anlegen von Quarantäne-Schiffen. Die Aufnahmeeinrichtung der zwischen Italien und Tunesien gelegenen Insel ist mit 1600 Menschen völlig überfüllt. Das Lager hat Platz für 250 Menschen. Die Familien mit Kindern, die dort Platz finden, teilen sich Matratzen auf dem Boden. Der jüngste Ankömmling ist drei Monate alt.

Italien stellt sich beim Thema Flüchtlinge erneut auf einen heißen Sommer ein: Mit besseren Wetterbedingungen wagen jedes Jahr mehr Boote als im Winter die Überfahrt von tunesischen und libyschen Küsten aus. Die Corona-Beschränkungen sorgten im vergangenen Frühjahr für eine geringere Anzahl von Überfahrten. Seit Jahresbeginn erreichten bereits 13.000 Migranten Italien, im vergangenen Jahr waren es im gleichen Zeitraum nur rund 4.000.

Die hohen Zahlen sind Wasser auf die Mühlen der rechtsnationalen Lega von Ex-Innenminister Matteo Salvini. „2.148 Ankünfte in 24 Stunden sind nicht vereinbar mit einem Land, das wieder durchstarten will“, erklärte der Lega-Chef, der Teil der Regierungskoalition von Ministerpräsident Mario Draghi ist und gleichzeitig kräftig die Oppositionstrommel rührt. Die Parteichefin der rechtsnationalen „Fratelli d’Italia“, Giorgia Meloni, fordert gar eine „Seeblockade“ gegen Flüchtlingsboote. Migration dürfte neben EU-Hilfen für den Wiederaufbau nach der Corona-Krise das wichtigste Thema bei den anstehenden Kommunalwahlen in wichtigen Städten wie Rom und Turin sein. Vor diesem Hintergrund machen Warnungen vor angeblich 800.000 Migranten, die in Libyen auf die Überfahrt nach Italien warten sollen, die Runde. „Warten Sie, ich hol mal meine Kristall-Kugel“, antwortet der Migrationsexperte Christopher Hein von der römischen Universität LUISS spöttisch auf die Frage nach deren Wert. Von den bereits 2014 erwarteten 800.000 Flüchtlingen kamen am Ende nur 170.000 an. Ein Jahr später anstatt einer Million nur 150.000.

Warnungen vor einer erwarteten Invasion von Migranten  und Wahlkampf-Parolen hält der Gemeindepfarrer Carmelo La Magra aus Lampedusa für ebenso verlogen wie überraschte Reaktionen aus Rom auf eine große Zahl von Booten in Lampedusa. „200 Migranten haben die Nacht unter unbeschreiblichen Bedingungen an der Mole verbracht und waren gezwungen, in Flaschen zu urinieren, Regierung der Besten, schämt Euch“, empört sich der Geistliche. Wer ein Phänomen, das sich jedes Jahr wiederhole, einen Notstand nenne, enthebe die Politik der Verantwortung.

Die Zahl der Überfahrten steigt

Mit besseren Wetterbedingungen für die Überfahrten steigt jedes Frühjahr die Zahl der Boote, die italienische Küsten erreichen. Seit anderthalb Jahren kommen zunehmend Tunesier mit den Booten.Sie haben in der Regel keine Aussichten auf Anerkennung von Asylgesuchen. Mit dem Tourismus ist einer der wichtigsten Wirtschaftszweige des Landes seit Beginn der Corona-Pandemie praktisch zum Erliegen gekommen. Sie stellen mit 13 Prozent der seit Januar in Italien registrierten Ankömmlinge die größte Einzelgruppe, gefolgt von Elfenbeinküste und Bangladesch. Die Europäische Union habe es versäumt, Tunesien angemessen zu unterstützen, klagt der Flüchtlingsexperte Christopher Hein mit Blick auf die einzige vergleichsweise funktionsfähige Demokratie in einem Land des Arabischen Frühlings.

Sowohl von Tunesien als auch von Libyen aus starten die Schleuser neuerdings auch mit großen Kuttern, die aus eigener Kraft mit mehreren Hundert Menschen an Bord Lampedusa erreichen. Überdies starten von libyschen Küsten aus derzeit auch bei widrigen Wetterbedingungen überfüllte Schlauchboote. Dabei sind Schiffe privater Seenotretter derzeit in italienischen Häfen blockiert. Mindestens 500 Migranten kamen seit Jahresbeginn ums Leben.

Wegen der Corona-Beschränkungen liegt die Übereinkunft zwischen Italien und anderen EU-Staaten über die Umverteilung  von Migranten derzeit auf Eis. Innenministerin Luciana Lamorgese appellierte vor dem Hintergrund der steigenden Zahlen, sich solidarisch zu zeigen und mehr Flüchtlinge aufzunehmen, die über Italien die EU erreichen. Nach dem Dublin-Abkommen müssen Asyl-Anträge in dem Land der Ersteinreise in die EU gestellt werden. Pläne für ein gemeinsames EU-Migrations- und Asylrecht liegen derzeit aber auf Eis.