Heute und morgen findet in Porto nach langer Zeit wieder ein „richtiger“ EU-Gipfel statt; zu befürchten ist, dass auch dieses als Sozialgipfel ausgeschilderte Treffen vor allem von tagespolitischen Themen wie die Freigabe der Patente für Impfmittel überlagert wird. Dabei bietet der Gipfel auch so schon viel Konfliktstoff, wenn auch erst auf den zweiten Blick. Für die S&D-Fraktionschefin Iratxe García etwa soll „Porto der Wendepunkt für Europa“ sein. Das hochrangige Treffen der Staats- und Regierungschefs ist zweigeteilt: Heute sind zunächst Workshops mit Sozialexperten und NGOs auf dem Programm, der eigentliche Gipfel beginnt dann am Abend und geht morgen weiter.

Zwar wird das Thema an sich und auch der entsprechende Aktionsplan der Kommission begrüßt, der unter anderem bis 2030 eine Beschäftigungsquote von mindestens 78 Prozent und den Kampf gegen Armut und soziale Ausgrenzung umfasst, aber schon bei Punkten wie EU-Mindestlohn oder sozialen Mindeststandards scheiden sich die Geister. Vor allem das Gefälle zwischen den gut abgesicherten nördlichen Ländern und dem nachholbedürftigen Süden blockiert gemeinsame Wege.

Selbst innerhalb der österreichischen Regierung gibt es unterschiedliche Zugänge. Im Gegensatz zu Bundeskanzler Sebastian Kurz und Arbeitsminister Martin Kocher (beide ÖVP) hat sich Sozialminister Wolfgang Mückstein (Grüne) für die EU-Mindestlohn-Richtlinie ausgesprochen. In einem offenen Brief mit grünen Ministern in Irland, Luxemburg, Finnland und Belgien zum Sozialgipfel in Porto unterstützt Mückstein die Forderung, dass alle Arbeitnehmer "über die EU-Mindestlohn-Richtlinie für ihre Arbeit angemessen entlohnt werden".

Der EU-Sozialgipfel in Porto müsse anerkennen, "dass soziale und ökologische Nachhaltigkeit komplementäre Ziele sind", heißt es in dem offenen Brief weiter. Die grünen Minister fordern auch, dass sich die Europäische Union das Ziel setzt, Obdachlosigkeit bis spätestens 2030 zu beenden. "Mit mindestens 700.000 Menschen in der Europäischen Union, die nicht einmal ein Zuhause haben, müssen ehrgeizige Schritte gesetzt werden", heißt es in dem Schreiben.

Weitere Forderungen der Grünen umfassen gleichen Lohn durch eine Lohntransparenzinitiative, die Ratifizierung der Istanbul-Konvention zur Gewalt gegen Frauen, den Einsatz gegen Kinderarmut, Maßnahmen gegen Lohndumping in der EU und gemeinsame europarechtliche Schritte sowie verbindliche Ziele für öffentliche Investitionen in erschwinglichen Wohnraum und Mietkontrollen.

Wenn die Milliarden sprudeln

Noch diesen Sommer, wenn die letzten Länder die Erhöhung des Eigenmittel-Deckels ratifiziert haben und die 27 Pläne für den wirtschaftlichen Wiederaufbau von der EU-Kommissionen endgültig genehmigt sind, beginnen die Milliarden zu sprudeln. Insgesamt 1,8 Billionen Euro wurden für die nächsten sieben Jahre ausgehandelt, um Europa aus der Covid-Krise zu helfen; in Wirklichkeit sind es schon mehr, inflationsangepasst wurden aus den 750 Milliarden des „Wiederaufbauprogramms“ mittlerweile mehr als 800 Milliarden. Mindestens 37 Prozent der Investitionen in die europäische Zukunft sollen „klimarelevant“ sein, mindestens 20 Prozent dem digitalen Aufschwung gewidmet sein. Letzte Woche erst beschloss das EU-Parlament allein über das „LIFE“-Programm Investitionen von 5,4 Milliarden Euro in Klima- und Umweltprojekte – das ehrgeizigste Umweltprogramm der EU bisher.

Das hat alles unmittelbare Auswirkungen auf den Arbeitsmarkt. Es sei aber nicht der erste große Wandel, sagte kürzlich die Präsidentin des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses in Brüssel, Christa Schweng, zur „Kleinen Zeitung“: „Der Gaslaternenanzünder hat seinerzeit auch mit dem elektrischen Licht gehadert.“ Niemand darf zurückgelassen werden – diese Vorgabe aus Brüssel wird dennoch nicht leicht zu erfüllen sein.

Sozialgipfel heute und morgen

Heute und morgen findet nun das aktuelle Treffen der Staats- und Regierungschefs als „Sozialgipfel“ im Ratsvorsitzland Portugal statt. Vor wenigen Wochen erst legte die Kommission ihren „Aktionsplan zur europäischen Säule sozialer Rechte“ vor, die EU-Länder haben drei zentrale Zielvorgaben ins Auge gefasst:

  • eine Beschäftigungsquote in der Europäischen Union von mindestens 78 Prozent.
  • die Teilnahme von mindestens 60 Prozent der Erwachsenen an Weiterbildungsmaßnahmen in jedem Jahr
  • die Verringerung der Zahl der von sozialer Ausgrenzung oder Armut bedrohten Menschen um mindestens 15 Millionen, einschließlich fünf Millionen Kinder.

Als Priorität gilt, nicht nur Arbeitsplätze zu schützen, sondern auch neue zu schaffen und, wie es heißt, „ihre Qualität zu verbessern“. Die EU-Führungsspitzen wollen bei diesem Gipfeltreffen auch beraten, wie in naher Zukunft junge Menschen unterstützt werden können, auf die sich die Pandemie besonders stark ausgewirkt hat und deren Aus- und Weiterbildung immer noch unter Homeschooling und geschlossenen Universitäten leidet.

Unterschiedliche Ausgangslagen

Allerdings gibt es unterschiedliche Zugänge, manche Länder sehen eine größere Rolle der EU in der Arbeitsmarkt- und Sozialpolitik skeptisch. In einem gemeinsamen Diskussionspapier zur Vorbereitung des Gipfels hatten neun Länder, darunter Österreich, vor zu weitgehenden Eingriffen gewarnt und betont, die EU könne hier nationales Handeln nur ergänzen. Verfasst wurde das Papier neben Österreich von Dänemark, Estland, Ungarn, Irland, Malta, den Niederlanden, Polen und Schweden.

Digitalisierung und Bildung sind jedenfalls die Schlagwörter der Stunde: Das EU-Parlament verabschiedete in der jüngsten Plenarsitzung das EU-Forschungsförderungsprogramm „Horizon Europe“, mit 95 Milliarden dotiert. „Jeder Euro daraus generiert bis zu elf Euro an zusätzlichem Wirtschaftswachstum“, rechnet Othmar Karas (ÖVP), Vizepräsident des Europaparlaments, vor. 300.000 Arbeitsplätze würden allein aus diesem Programm entstehen, insgesamt rechnet die EU mit bis zu zwei Millionen „neuen“ Arbeitsplätzen in den kommenden Jahren. VP-Delegationsleiterin Angelika Winzig sieht im Programm „Digital Europe“ eine Beschleunigung der digitalen Transformation: „Es geht um die Förderung von digitalen Fähigkeiten von Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern und den digitalen Wandel in der öffentlichen Verwaltung. Ziel ist auch hier die Erhöhung der Wettbewerbsfähigkeit und die Sicherung der technologischen Souveränität Europas. Klein- und Mittelbetriebe sollen einen besseren Zugang zu Super-Computern haben.“

Start der Zukunftskonferenz

Es gibt aber noch eine weitere Initiative, die am Europatag, dem 9. Mai, in Straßburg gestartet wird. Die „Konferenz Zukunft Europa“ soll auf breiter Basis die Bevölkerung mit einbinden und ausloten, wie sich die EU in den nächsten Jahren am besten aufstellen kann.