Herr Lentz, Sie haben zum 200. Todestag von Napoleon eine Streitschrift veröffentlicht, in der Sie den großen Korsen verteidigen. Steht es so schlecht um sein Andenken?
THIERRY LENTZ: Seien Sie unbesorgt, Napoleon bleibt die beliebteste historische Gestalt der Franzosen und hat auch in Europa zahlreiche Fans. Wie überall erleben wir in Frankreich eine Offensive der Cancel Culture und Rassenlehre in neuem Gewand, mit der unsere Regierenden aus Furcht, einige Minderheiten zu verärgern, nicht zurande kommen. Ich habe mein Buch geschrieben, um die Debatte über dem Niveau heutiger Befindlichkeiten zu führen. Das heißt nicht, dass ich Napoleon um jeden Preis verteidige. Aber ich will die 15 Jahre seiner Regentschaft über die Analyse des historischen Gehalts der gegen ihn erhobenen Vorwürfe in den gebührenden Kontext zu setzen.

Was hält man Napoleon vor?
Man hat ihm in den vergangenen 200 Jahren immer irgendetwas vorgeworfen. Die Hauptkritik heute lautet, dass er 1802 die Sklaverei in den Kolonien wiedereingeführt und 1804 im Code civil die Benachteiligung der Frauen festgeschrieben hat.

Haben die Kritiker nicht recht?
Das haben sie, solange sie nicht die Epochen verwechseln. Wir sollten nicht so naiv sein, zu glauben, sie hätten es nur auf Napoleon abgesehen. Ihre Vorwürfe sind Teil des steten Versuchs, unsere Gesellschaft zu spalten und ihr die eigenen Sichtweisen aufzuzwingen.
Ist es nicht normal, dass sich das Bild einer schon zu Lebzeiten so umstrittenen Gestalt wie Napoleon im Lauf der Zeit ändert?
Es ist sogar eine der anregendsten Aufgaben eines Historikers, die Geschichte stets neu zu interpretieren. Aber man kann das Studium einer so wichtigen Epoche wie Napoleons Regentschaft nicht auf das reduzieren, was uns heute schockiert.

In Österreich ist Napoleon seit jeher der Mann, der Europa mit Kriegen überzogen und ausgeplündert hat. Was daran ist wahr?
Napoleon war Erbe einer bestimmten Geschichte. Er hat den französischen Traum von der Vormacht in Europa mit derselben Hartnäckigkeit verfolgt wie vor ihm die Habsburger für ihr Reich, ehe sie vom Frankreich Ludwig XIV. ausgestochen wurden. Dass er in weiterer Folge den Gang der Weltgeschichte beschleunigte, ist unbestreitbar. Er verfügte über einen so überlegenen Militärapparat, dass die Versuchung groß war, zur absoluten Herrschaft zu streben. Das war sein kapitalster Irrtum.

Lichtgestalt oder Tyrann: Was war er wirklich?
Napoleon ist eine komplexe, fast paradoxe Gestalt. Er hält sich seine revolutionäre Herkunft zugute, will aber von den europäischen Monarchen als ihresgleichen anerkannt werden. Er spricht von Freiheit und knebelt die Opposition. Er posiert als Befreier der Nationen, missachtet aber die Völker. Er belebt das traditionelle Königtum neu und bewahrt das Beste der Revolution. Er erkennt die Souveränität des Volkes an, beschränkt aber dessen Ausdrucksmöglichkeiten. An dem ereignishaften Knotenpunkt, an dem er sich wiederfand, hatte er keine andere Wahl als diese Ambivalenz.

Was macht ihn zur Ausnahmeerscheinung?
Sieht man von seinen Qualitäten als Kriegsherr ab, war er ein großer Regent, der sich mit den richtigen Leuten zu umgeben wusste, einer, der entscheiden konnte und seine Meinung nicht jeden Tag änderte. Darin könnte er Inspiration für die Regierenden von heute sein, die von Zweifeln gequält nicht wissen, wie man sich durchsetzen muss. Napoleon hatte das Temperament eines Anführers, ein phänomenales Gedächtnis, breites Wissen, einen messerscharfen Sinn für das Notwendige und Machbare. Er hatte gesunden Menschenverstand und steckte mit seiner Energie an. Der Historiker Jean Lucas-Dubreton schrieb über Napoleon, er habe die Ära der Ernsthaftigkeit an der Spitze des Staates eingeläutet, die des Herrschers, der 24 Stunden regiert und bei denen, die die Ehre haben, dem Staat zu dienen, denselben Opfergeist hervorruft. Der Rest bleibt unerklärlich. Was lässt einen zum großen Mann werden? Darauf eine Antwort zu geben, ist schwer.

Was schätzen Sie an Napoleon Bonaparte am meisten?
Seine Regierungskunst.

Und was verabscheuen Sie?
Seine außenpolitischen Irrtümer, die Folge des Gefühls von Überlegenheit und Unfehlbarkeit waren, das ihn beseelte.

Zählten für ihn eigentlich die Toten, die seine Kriege forderten?
Wie alle Kriegsherren hatte Napoleon eine zwiespältige Haltung gegenüber den Konsequenzen seiner Entscheidungen für die Menschen. Für die meisten von uns, die wir uns heute in der Sicherheit des Friedens wiegen, der seit 75 Jahren in Westeuropa herrscht, ist das fast unbegreiflich. Aber in einer Zeit, da Divergenzen zwischen den Staaten oft mit Waffen ausgetragen wurden, war der Krieg Teil der Mittel, mit denen auch Napoleon seine Politik der Neuordnung Europas durchsetzte.

Napoleon sah den Krieg als Instrument des Fortschritts. War er darin Vorläufer der Totalitarismen des 20. Jahrhunderts?
Ein Blick ins Lexikon zeigt, dass der Begriff Totalitarismus erst seit den 1920er-Jahren gebräuchlich ist, um die Machtausübung der Faschisten, Nationalsozialisten und Kommunisten zu charakterisieren. Diese mündete in die totale Herrschaft einer Partei über Staat und Gesellschaft im Namen einer Ideologie, die zur einzigen Norm wurde, zum Preis der Knebelung von Freiheit, Justiz und Presse, von bis zum Genozid reichendem Polizeiterror und der Militarisierung der Gesellschaft. All das wird man bei Napoleons Regime, das autoritäre Tendenzen hatte, aber weder solche Formen annahm, noch solche Ziele verfolgte, vergeblich suchen. Während Hitler von den Ruinen seines Reichs verschlungen wurde, Mussolini den Abklatsch des Imperium Romanum nie gründete und Lenin und Stalin, statt ihr ursprüngliches revolutionäres Programm umzusetzen, ihr Volk massakrierten, hat Napoleon Dauerhaftes gegründet.

Was von seinem Erbe ist bis heute lebendig?
Von Napoleon bleibt vieles: Verwaltung, Institutionen Denkmäler. Vor allem aber verdanken wir ihm seinen Code civil. Sogar reformiert hat dieses Vademecum, zu dem Napoleon selbst viel beitrug, sein solides Gerüst und einen guten Teil seiner ursprünglichen Philosophie bewahrt. Das ist nicht nur eine Sammlung von wie auf einem Rosenkranz aufgefädelten Gesetzen, sondern der Anspruch auf eine politische und soziale Ordnung, die uns sogar nach 220 Jahren noch ohne Zwang ganz natürlich als normativer Rahmen von der Wiege bis zur Bahre und selbst noch danach prägt. Napoleon steckt in uns.

Warum ist er gescheitert?
Er ist gescheitert, weil er vor allem nach dem Frieden mit Russland 1807 nicht begriffen hat, dass er eine Pause hätte machen sollen, um das von ihm errichtete Gebäude zu stabilisieren. Außenpolitisch war Napoleon ein Spieler, der nicht zuletzt als Verlierer endete, weil – und das sage ich Ihnen als Österreicher – Metternich ihn manipulierte.