Herr Bruckner, Sie gehen hart mit der modischen Neigung ins Gericht, alte weiße Männer für alles Übel der Welt verantwortlich zu machen. Ihre Gegner werden sagen, es ist die Schelte eines alten weißen Mannes. Haben sie nicht recht?
PASCAL BRUCKNER: Das haben sie. Ich spreche ihnen aber das Recht ab, mich zum Schweigen zu bringen. Denn sie machen sich der Altersdiskriminierung, des Sexismus und antiweißen Rassismus schuldig. Dessen Eigentümlichkeit besteht darin, dass man ihn selbst in dem Augenblick, da man die „Weißen“ zur Hölle wünscht, leugnet. Eher als von Antirassismus muss man daher von Neorassismus sprechen. Wer die Welt in Rassen teilt, fällt in den Faschismus der 30er-Jahre zurück.

Wollen Sie damit sagen, dass es keinen weißen Rassismus gibt?
Es trifft zu, dass Europa im 18. und im 19. Jahrhundert den wissenschaftlichen Rassismus erfunden hat. Auf Anregung deutscher Gelehrter und französischer Theoretiker wie Arthur de Gobineau wurde eine Hierarchie der Rassen konstruiert, an deren Spitze man nicht die Weißen, sondern die Arier platzierte, diese blonden Bestien, dazu bestimmt, die Menschheit zu beherrschen und die „minderwertigen Völker“, Juden, Roma und Sinti, Slawen und auch die Romanen, zu vernichten. Und natürlich gibt es in den USA, einer von Natur aus gewalttätigen Gesellschaft, einen tödlichen weißen Nationalismus, der sich zuletzt in Atlanta gegen Asiaten richtete. Aber Rassismus ist die bestverteilte Sache der Welt: Im 14. Jahrhundert erklärte der große tunesische Historiker Ibn Khaldun, dass die Schwarzen fast Tiere und daher zur Sklaverei bestimmt seien. Viele muslimische Schriftsteller haben seither die Sklaverei gerechtfertigt. In Libyen gibt es heute noch geheime Sklavenmärkte, ganz zu schweigen vom IS, der in den von ihm kontrollierten Gebieten für Christen und Jesiden die Sklaverei wiedereinführte.

Rassismus ist also ein Wort, das man im Plural schreiben müsste?
In Frankreich greifen die Vorstadtjugendlichen, die beklagen, Opfer von Diskriminierung zu sein, Chinesen an. Und wenn Sie Jude sind, haben Sie in der Banlieue in einem mehrheitlich muslimischen Milieu nur geringe Überlebenschancen. Daher der Exodus von 50.000 französischen Bürgern jüdischen Glaubens aus gewissen Vierteln.

Wie erklären Sie sich die Fixierung auf den weißen Mann?
Mit den Gräueln des Zweiten Weltkriegs, der Schoah und der Sensibilisierung für die Ungerechtigkeit der Kolonialisierung. Die Nürnberger Prozesse hatten eine retrospektive Wirkung auf Sklaverei und Imperialismus, die plötzlich als unerträglich empfunden wurden. 1952 veröffentlichte Claude Lévi-Strauss „Rasse und Geschichte“, ein epochemachendes Buch, in dem er zeigte, dass es weder Rassen noch minder- und höherwertige Kulturen gibt. Das Beharren auf der Rassentrennung in den USA erschien den meisten fortan als abscheuliches Relikt. Um die Dämonen des Nazismus auszutreiben, hat Europa bereits 1948 den Antirassismus zum Fundament seiner Gründungscharta gemacht. Wir leben bis heute unter diesem Versprechen.

Warum tun wir das?
Was wir aktuell erleben, ist die Dehnung des Rassismusbegriffs ins Unendliche. Alles wird über die Rasse definiert: Religionen, Kulturen, sexuelle Vorlieben, Ernährungspräferenzen. Man hat sogar die „Pauvrophobie“ und die „Glossophobie“ erfunden, den Hass auf die Armen und die Allergie auf Akzente. Die „Phobien“ vermehren sich in dem Maß, wie in einer seltsamen Fehlannahme Angst mit Hass gleichgesetzt wird.

Ist in vielen Fällen das eine wirklich vom anderen zu trennen?
Wer sich heute vor einer Religion fürchtet, der kann dieser Logik nach nur zwischen Geisteskrankheit und Abscheu schwanken. Die geringste Meinungsverschiedenheit, das leiseste Unbehagen wird als rassistische Abwertung gedeutet. Darum kreist auch die ganze Debatte um den Begriff „Islamophobie“, der streng genommen gar nichts besagt: Denn man hat das Recht, Religionen, Gott, seine Propheten und Diener zu hassen. Es ist nur verboten, die Gläubigen zu verfolgen. In einer Demokratie ist das eine wichtige Unterscheidung: Man kann eine Religion kritisieren, aber man muss die Gläubigen respektieren. Ich wünschte, viele arabisch-muslimische Staaten würden sich im Umgang mit den orientalischen Christen darauf besinnen.

Was macht die neuen Ideologien für viele so faszinierend?
Geschlecht, Identität und Rasse sind Konzepte, die – unter dem Vorwand sozialer Gerechtigkeit aus den USA importiert – Theorien der extremen Rechten wiederbeleben. In der kulturellen Wüste einer europäischen Linken, die die Leere nach dem Zusammenbruch des kommunistischen Projekts 1989 nicht zu füllen vermochte, feiern diese Ideologien nun große Triumphe. Der Rassenkampf tritt an die Stelle des Klassenkampfes. Ein Teil der Linken will uns einreden, dass es eine Schande sei, weiß zu sein. Dass wir die Henker dieses Planeten seien. Europa soll rechtswidrig der Prozess gemacht werden. Es soll entkolonialisiert werden und verschwinden. Ich spüre, dass es starken Widerstand geben wird. Das große Problem der USA ist, dass sie den Rassismus damit bekämpfen, dass sie jeden Menschen seiner Hautfarbe und Ethnie zuordnen: Schwarze den Schwarzen, Hispanics den Hispanics etc. Die Segregation wird mit legaler Apartheid bekämpft – eine Sackgasse. Ich liebe Amerika, aber ich habe keine Lust, Amerikaner zu werden. Mein Ideal ist der Universalismus der Französischen Republik, nicht der Kommunitarismus der angelsächsischen Welt.

Was macht dieses universalistische Ideal so erstrebenswert?
Der Universalismus spricht sich für ein gemeinsames Gesetz aus, vor dem alle Menschen gleich sind – unabhängig von Rasse, Geschlecht, Glauben und Herkunft. Der Laizismus französischer Prägung organisiert das friedliche Zusammenleben der Religionen im öffentlichen Raum unter der Bedingung, dass die Glaubensbekundungen auf die Privatsphäre und die Kultstätten beschränkt bleiben.

Wir leben in Europa in immer gleicheren Gesellschaften. Trotzdem fühlen die Leute sich immer ungleicher. Wie kommt es dazu?
Es ist die Bestätigung von Tocquevilles berühmtem Paradoxon: Völker revoltieren nicht, wenn sie im Elend sind, sondern wenn sich ihr Los lindert. Je besser die Verhältnisse, desto größer die Unzufriedenheit, desto unerträglicher die bestehenden Ungleichheiten. Die Folge: Man verabscheut selbst die gerechtesten Demokratien, während man die Diktaturen von jeder Schuld freispricht. Auch der Neofeminismus steht ganz in der Kontinuität dieses Gesetzes.

Wie das?
Der Neofeminismus – auch er aus den USA importiert – will nicht nur Gleichheit zwischen den Geschlechtern. Er will das männliche Geschlecht kriminalisieren: Wie einst im Mittelalter die Frau wird heute der weiße Mann verteufelt. Aus der Hexenjagd wird eine Hexerjagd. Männlichkeit ist giftig und soll durch Weiblichkeit ersetzt werden, durch das, was eine französische Philosophin die Philosophie der Klitoris genannt hat. Diese sei im Gegensatz zum aggressiven, wilden Penis verletzlich und besänftigend. In diesem Sinn wollen zwei französische Aktivistinnen, Alice Coffin und Pauline Harmange, alles Männliche austilgen, und werden dafür wie Prophetinnen gefeiert. Simone de Beauvoir würde sich im Grab umdrehen!

Welche Rolle spielen bei alledem die Intellektuellen?
Wie immer sind sie Gift und Gegengift in einem. Sie verbreiten die unheilvollen Ideologien, aber sie können sie auch korrigieren. Alles beginnt und endet mit den Ideen. Ideen leiten die Welt. Schlechte Ideen können Gesellschaften verderben und zum Bürgerkrieg führen. Das Ideal wäre, dass die Linke selbst die Gegenmittel zu den Doktrinen produziert, die ihre Botschaft korrumpieren. Davon ist sie aber weit entfernt. Leider!