MICHAEL FLEISCHHACKER: Ob der Staat uns zu viele Freiheiten nimmt, finde ich eine hervorragende Frage, sie erinnert mich an zwei weitere, die in satirischen Zusammenhängen mitunter gestellt werden: Ist der Papst katholisch? Scheißt der Bär in den Wald? Nun weiß ich, dass es unterschiedliche Vorstellungen vom Katholischsein und wohl auch Menschen gibt, die den Papst gar nicht so katholisch finden, aber im Großen und Ganzen wird man sagen dürfen: Ja, der Staat nimmt uns zu viele Freiheiten weg, und zwar immer, das ist nämlich
seine ureigene Bestimmung.

ARMIN THURNHER: Ich habe Schwierigkeiten, den Staat als etwas Fremdes zu denken, das „uns“ Dinge wegnimmt oder erlaubt. Wer ist denn dieses „wir“? In der Pandemie geht es doch um vernünftiges Handeln, das wir vom von uns beauftragten, leitenden staatlichen Personal erwarten. Diese Rede von den Freiheiten, die uns ein Staat nimmt (unserer! China ist was anderes) verstehe ich überhaupt nicht. Dass die Damen und Herrn nicht adäquat handeln, das ist eine andere Frage, darüber können wir gern reden.

FLEISCHHACKER: Ich sehe das etwas anders, lieber Thurnher, und das wird weder Sie noch mich überraschen. Was ich mit Ihnen teile, ist die Skepsis gegenüber jeder Art von „wir“. Man denkt den Staat entweder als notwendigen Container des Bösen, der in Aktion tritt, wenn die einzelnen Menschen Probleme haben, die sie ohne institutionelle Verankerungen nicht bewältigen können. Dann verzichten sie im Tausch gegen praktikable Lösungen für alle auf individuelle Freiheiten. Oder man denkt den Staat als vorgegebene Struktur, in die sich alle einzugliedern haben, vor allem, wenn jemand „Krise“ schreit, und von der man sich, wenn man hartnäckig ist, die eine oder andere individuelle Freiheit ertrotzen kann. Wer entscheidet denn im Übrigen, welches Handeln vernünftig wäre?

THURNHER: Ich denke ihn mir weniger rigoros als Hobbes, ich denke ihn mir als potenziell vernünftiges Gebilde, das deswegen zur Unvernunft tendiert, weil Einzelne sich des Staats bemächtigen, um ihre privaten Interessen durchzusetzen. In der Pandemie war es das Interesse des Kanzlers, nicht die beste Art der Pandemiebekämpfung vorzulegen, sondern die besten Umfragewerte zu lukrieren. Oder zu sparen bei der Beschaffung und damit Impfengpässe zu schaffen. Oder hin und her zu schwanken, statt ein klares Konzept zu entwerfen und zu kommunizieren. Dass mancher da sagt, nicht mein Staat, wen wundert’s. Trotzdem fatal.

FLEISCHHACKER: Ich halte zwar den Großteil der sogenannten Maßnahmen für nicht sinnvoll, würde aber weder Sebastian Kurz noch Angela Merkel absprechen, dass sie das, was sie tun, für die beste Möglichkeit halten, die Bevölkerung zu schützen. Ich halte es nämlich nicht für sinnvoll, jemanden dann für einen uneigennützigen Diener des Volkes zu halten, wenn er tut, was ich für richtig halte, und ihm unangemessene Privatinteressen vorzuwerfen, wenn er tut, was ich nicht für richtig halte. Das tun eigentlich nur Verschwörungstheoretiker. Der Staat ist möglicherweise ein potenziell vernünftiges
Gebilde, aber das ist auch eine Amöbe.

THURNHER: Moment: Zwischen Kanzler und Amöbe ist schon ein Unterschied. Ich weiß nicht, woher Sie die Idee nehmen, lieber Fleischhacker, es ginge mir um meine Privatinteressen. Es gibt ja noch so etwas wie Fakten: Wenn einer, um die EU zu ärgern, auf Sparsamkeit besteht und deswegen zu wenig Impfstoff bestellt, ist er einem falschen Politikkonzept gefolgt. Wenn einer diverse Interessen von Unternehmern zu befriedigen sucht und darüber stets zu spät und zu lahm mit Lockdowns reagiert, dann folgt er einem falschen Konzept. Das kann man, um zum Thema zurückzukommen, auch von diversen autoritären Gesten sagen, polizeilichen Abstrafungen et cetera. Was ich mir von Verantwortungsträgern im Staat erwartet hätte, wäre hingegen gewesen, eine verständliche Pandemiepolitik zu artikulieren und Staatsbürgerinnen und Staatsbürger zu vernünftigem Verhalten zu animieren und bei ihnen das Bewusstsein zu schaffen, dass sie (wir) im eigenen Interesse auf gewisse Freiheiten verzichten.

FLEISCHHACKER: Die Idee, dass es Ihnen um Ihre Privatinteressen geht, nehme ich daher, dass ich Sie für einen vernünftigen Menschen halte. Über das Politikkonzept des Kanzlers würde ich gerne diskutieren, weiß darüber aber so gut wie nichts. Was Lockdown-Strategie betrifft, sind wir beide einfach unterschiedlicher Ansicht. Ich denke, dass man auf Ungewissheit durchaus mit Stillstand reagieren kann, aber wer diese Zeit nicht nutzt, um Daten zu sammeln und auszuwerten, und daraus vernünftigere Konzepte entwickelt als die permanente Einschränkung bürgerlicher Grundfreiheiten – allen voran die Erwerbsfreiheit –, macht einen Fehler. Die Folgen dieses Fehlers werden wir noch lange zu ertragen haben, aber das kann man wirklich nicht speziell dem österreichischen Regierungschef anlasten.

THURNHER: Warum nicht? Es gibt Abstufungen der Unvernunft, Jair Bolsonaro und Donald Trump liegen sicher am einen Ende der Skala. Warum hätte es nicht möglich sein sollen, vernünftig auf die Pandemie zu reagieren? Und warum müssen wir diesen Impfdilettantismus ertragen? Es gibt schon eine Verantwortung der Regierenden, sich ihre Fachleute auszusuchen und dann entsprechende Entscheidungen zu treffen. Ich stimme mit Ihnen überein, Lockdowns als einzige Idee sind schwach, vor allem, wenn sie verzögert angeordnet und halbherzig durchgeführt werden.

FLEISCHHACKER: Was die gegenwärtige Pandemie betrifft, ist die Milch ohnehin schon verschüttet. Man wird sich jetzt bis in den Sommer hinein irgendwie durchwurschteln, auf die Impfungen und den saisonalen Effekt hoffen, und dann darf man gespannt sein, ob wir im nächsten Herbst das gleiche Theater noch einmal haben, weil natürlich auch dann noch Menschen an Covid-19 sterben werden, so wie jedes Jahr ziemlich viele Menschen an der Grippe sterben. Dann wird sich zeigen, ob wir auf einen Weg der pragmatischen Vernunft zurückfinden, ob wir endlich akzeptieren, dass die Idee, jeden Todesfall zu verhindern, koste es, was es wolle, ein regelrechter Irrwitz ist. Groß ist meine Hoffnung nicht, dass das passiert, ich fürchte, das Hysterisierungskarussell ist nicht so leicht zu stoppen.

THURNHER: Ich weiß nicht, ob es sich um ein Hysterisierungskarussell handelt. Wenn man auf den Intensivstationen nachfragt, schaut die Welt doch anders aus. Im Herbst wird die Sache vermutlich vorbei sein, denn wer sich impfen lassen will, wird sich dann haben impfen lassen. Bei allem dürfen wir nicht vergessen, die Grippe kennen wir schon lange, doch Corona ist neu, aber das haben wir hier schon einmal gesagt, auch eine Einübung in kommende ähnliche Krisen. Ich empfinde es als beunruhigend, Gesten der Unvernunft (Maskenopposition der Kickls) als Opposition schlechthin ausgestellt zu sehen. Das läuft dann darauf hinaus, staatliche Vernunft nicht anzuerkennen. Die leider so vernünftig auch wieder nicht ist. Am Ende gilt es dann überhaupt keine öffentliche Vernunft mehr. Ein Dilemma!