Kürzlich hatte ich das Bedürfnis, mich von Welt und Mensch zu erholen, und machte also einen Ausflug zu den Immer-Verlässlichen, den Toten auf den großen Gottesackern Wiens. Die Weite des Zentralfriedhofs ist ein eigenes Land im Land, eine Geographie des bescheidenen und protzigen Gedenkens, in der Einsame die Wege entlangschlendern, verliebte Paare zwischen den Gräbern umherwandern, um auf den Steinen die schönsten Kindernamen für ihre künftigen Sprösslinge zu suchen, Tourette-Kranke ungestört das stille, genügsame Publikum im Boden verfluchen, das nicht herauskann aus seiner Erde.

Es ist wahrlich ein außergewöhnlicher Platz mitten in der Hauptstadt. Man spaziert zwischen einfachen Steinen und Miniaturkathedralen mit eisernen Toren, zerbrochenen Grabmälern und hohem Gras und ist umso lieber dort, wenn man niemanden kennt, den man besuchen muss. Fremde Friedhöfe, auf denen nur einem Unbekannte liegen, sind Orte, die einen zur Ruhe kommen lassen, eine seltsame Harmonie scheint über sie hinwegzuwehen, vielleicht weil sich unter jedem Stein ein bereits zu Ende gegangenes Schicksal versteckt, das einen nicht mehr überraschen, belästigen oder belasten kann. Man bestaunt bloß eine musealisierte Vergangenheit, fühlt der Vergänglichkeit unverbindlich hinterher und ist dabei selbst ganz am Leben. Mitunter wandere ich aus beruflichen Gründen zwischen Gräbern umher, denn ich leihe mir immer wieder Namen von den Grabsteinen für meine Romanfiguren und Kurzgeschichtenprotagonisten, weil es eine Logik in der Benennung gibt, die ich mir oft nicht selbst ausdenken kann. Dann borge ich ihn aus und schreibe ihn in mein Notizbuch.

Manchmal muss ich einen Namen bedauernd zurücklassen, weil mir meine Lektorin einen Herrn Letztergroschen oder eine Frau Betty Oesterreich, die laut Inschrift die zärtlichste aller Gattinnen war, schlicht verbieten würde.
Wenn man genug Namen und ein trauriges Herz hat, ist man am Friedhof der Namenlosen richtig, der in der Nähe des Alberner Hafens liegt. Ein Heimatlosenfriedhof, auf dem lange die angeschwemmten Opfer der Donau bestattet wurden – Reisende und Ertrunkene, Selbstmörder, Seeleute und Hafenarbeiter, deren Geschichte und deren Identität man nicht kennt.

Eiserne Kreuze mit Christusfiguren bewachen auf jedem Grab die Fremden, und von der Sonne verblichene Stofftiere und falsche Blumen geben Zeugnis, dass es Menschen gibt, die auch der Unbekannten gedenken. Vor vielen Jahren hat der Filmemacher Nikolaus Geyrhalter einen Film über diesen außergewöhnlichen Ort gemacht, in dem er den Totengräber Josef Fuchs interviewt, der im Laufe seines Lebens sachkundig unzählige Angeschwemmte aus dem Fluss barg, seine Berufung darin fand und schlussendlich gar ein wenig enttäuscht darüber war, dass mit der Veränderung der Landschaft und der Zeit irgendwann auch die Wasserleichen weniger wurden.