Frau Eberhardt, Sie sind zuständig für die digitale Weiterentwicklung der Kleinen Zeitung. Ist Qualitätsjournalismus mit Instagram, Facebook und TikTok vereinbar?

LARISSA EBERHARDT: Dass sich die Form verändert hat, heißt nicht, dass der Inhalt schlechter wird. Wir setzen jetzt mehr auf Video, auf Persönlichkeiten, einen Hauch auch mehr auf das Subjektive. Wir müssen die Leute abholen in ihren Lebensrealitäten. Viele Junge haben in den sozialen Medien die Aufmerksamkeitsspanne eines Eichhörnchens, und da Dinge gebündelt rüberzubringen, ist schwierig. Die Formate müssen immer kürzer werden, und die Schwierigkeit besteht darin, den Spagat zu schaffen zwischen dem Format, das die Menschen anspricht, und dem Bemühen, trotz der Kürze auch in die Tiefe zu gehen.

HUBERT PATTERER: Wie groß ist die Aufmerksamkeitsspanne von Eichhörnchen?

EBERHARDT: Na ja, das Ziel für unser neues Video-Projekt für TikTok ist, dass wir im Durchschnitt eine Watchtime von unter zehn Sekunden haben. Die Leute scrollen und scrollen, und wir versuchen, ihre Aufmerksamkeit zu kriegen. In den sozialen Medien funktioniert das am besten über die Emotionalisierung, dabei ist es schwierig, nicht ins Boulevardeske abzurutschen. Auf Facebook haben wir wahrscheinlich zu sehr auf Emotionalisierung gesetzt, und jetzt haben wir eine Community dort, die unter anderem auch aus Hasspostern besteht und sehr polarisiert ist.

Alt und Jung sollen voneinander lernen, heißt es. Was kann der Chefredakteur von Ihnen lernen?

EBERHARDT: Ich glaube, von unserer Generation kann man lernen, auch einmal loszulassen und sich auf neue Dinge einzulassen. Und den Umgang mit der Community. Wir sind intensiv im Austausch mit den Usern.

Herr Chefredakteur, was möchten Sie von den Jungen lernen?

PATTERER: Dieses Wahrnehmen und Erspüren von Phänomenen in der digitalen Welt – wie können wir unter den Rahmenbedingungen, die Frau Eberhardt gerade geschildert hat, journalistische Identität noch spürbar und erkennbar werden lassen? Wie man komplexe Themen visuell aufbereitet, ohne dass die Essenz völlig flöten geht, da kann man viel lernen.

Bei den neuen Kanälen geht es vor allem auch um eine Brücke, über die etablierte Medien jüngeres Publikum erreichen wollen. Ist da schon etwas gelungen?

EBERHARDT: Wir lernen gerade erst, die sozialen Medien nicht nur als Plattform für Links zu begreifen, sondern als eigenen Kanal für Berichterstattung. Für mich ist das ein wichtiges Ziel, weil man weiß, dass sich gerade bildungsfernere Schichten primär über die sozialen Medien informieren. Diese Leute zu erreichen ist superwichtig. Man muss Geschichten aber anders erzählen, nicht als Bericht über die Pressekonferenz des Gesundheitsministers zum Beispiel, sondern anhand von Personen, die von Corona betroffen sind.

PATTERER: Der Krankenschwestern zum Beispiel ...

EBERHARDT: Ja. Wir machen die Geschichte dadurch nahbarer. Gerade junge Menschen interessiert das eher.

Herr Zankel, Sie haben vor 15 Jahren ihren Abschied als Chefredakteur genommen. Was war für Sie der wichtigste Wert in Bezug auf die Berichterstattung der Kleinen Zeitung und was hat sich verändert?

ERWIN ZANKEL: Ich komme ja aus der „Bleizeit“, die digitale Revolution habe ich noch miterlebt, aber ich muss sagen, ich habe die Wucht der Entwicklung unterschätzt. Ich teile Ihren Optimismus nicht, Frau Eberhardt: Die sozialen Medien haben das Wesen des Journalismus ramponiert. Das hängt zusammen mit den Algorithmen, die eine Vorauswahl treffen, sodass der Benutzer nur noch in seinen eigenen Meinungsblasen lebt und kommuniziert. Die klassische Zeitung hat sich darum bemüht, alle Aspekte einzubringen, auch wenn man wusste, dass nicht allen Lesern alles gefallen wird. Jetzt ist alles schneller, aber auch einseitiger.

PATTERER: Und emotionaler ...

ZANKEL: ... emotionaler und diskursunfähiger. Wir erleben es ja jetzt wieder mit der aufgeheizten Diskussion über die Pandemie, das Impfen etc. Einer übertrifft den anderen in der Beschimpfung, das wird konsumiert und bekommt Beifall. Man bunkert sich ein, ein ganz wichtiger Teil der Informationsarbeit wird ausgeklammert. Das birgt auch Gefahren.

EBERHARDT: Da möchte ich einhaken: Ich bin optimistisch, was das Erzählpotenzial angeht, aber in dem anderen Punkt kann ich mich Ihnen anschließen: Diese Technologie, die so viel Einfluss auf unsere Gesellschaft hat, ist absolut antidemokratisch. Dass es nicht geht, dass die großen Konzerne ihre Algorithmen geheimhalten und gleichzeitig so einen krassen Einfluss auf unsere Gesellschaft haben, ist mittlerweile auch angekommen. Das Problem ist, dass die Politik nicht hinterherkommt mit den Gesetzen, die diese Plattformen regulieren. Die Grundidee der sozialen Netzwerke halte ich schon für gut, aber es ist halt mehr Profit in der Dynamik drin, die durch Spaltung entsteht, als im Verbinden der Menschen miteinander.

PATTERER: Ich sehe hier auch eine Beschädigung der Demokratie: Wenn die Zeitung einen zentralen Wert hat, dann ist es der des Herstellens einer gemeinsamen Öffentlichkeit, wo dann eine Gesellschaft mit sich selbst ins Gespräch kommt. Das ist die Grundidee, wie Demokratie und Verständigung funktionieren, und das scheint mir zu zerfallen in verschiedene Öffentlichkeiten und Gegenöffentlichkeiten. Das ist ein Zersetzungsprozess, der sich auch in der Impfdebatte extrem entzündet hat und unter dem wir als Zeitung leiden. Mit der Anonymität, mit dieser Debatte aus der Kapuze heraus komme ich dabei bis heute nicht klar.

EBERHARDT: Obwohl: Mit der Verrohung sind wir schon einen Schritt weiter. Die Leute posten nicht mehr anonym, sondern unter ihrem klaren Namen.

PATTERER: Das ist die zweite Stufe der Enthemmung.

ZANKEL: Wie viele posten unter dem klaren Namen?

EBERHARDT: Ich würde sagen, bei uns auf Facebook sind es etwa 90 Prozent, also extrem viele, die sich wirklich nicht mehr zurückhalten. Wir haben diese „Initiative gegen Hass im Netz“. Da haben wir die Hasskommentare gesammelt und die Personen angezeigt. Da ist alles dabei, Opas, die auch die Fotos von ihren Enkelkindern posten, oder ältere Damen, die beim Amt arbeiten. Und die schreiben dann Dinge wie: „Ein Baum, ein Strick, ein Pressegenick.“ Die Leute schämen sich gar nicht dafür. Sie sitzen vor dem Bildschirm und vergessen, dass es da ein Gegenüber gibt.

Larissa Eberhardt, Erwin Zankel und Hubert Patterer im Gespräch
Larissa Eberhardt, Erwin Zankel und Hubert Patterer im Gespräch © (c) KLZ/ Stefan Pajman

Zum Thema Corona: Wir wollen das Feld nicht den Populisten und Verschwörungstheoretikern überlassen. Welche Wege geht die Kleine Zeitung?

PATTERER: Es ist eine bittere Erfahrung, dass wir in diesem Bemühen wirklich an Grenzen stoßen. Die Grundidee dieser Zeitung seit 1904 ist, dass sie sich an kein vorsortiertes Publikum richtet, dass sie sich als Klammer empfindet, die über die Gesellschaft gespannt ist. Wir versuchen immer noch pluralistisch zu sein, aber auf wissenschaftlicher Evidenz basierend. Das wird oft nur noch als brachiale Regierungstreue verstanden. Da hat sich eine Schablone verselbstständigt, die in den sozialen Medien ein starkes Echo findet. Daraus können wir uns kaum mehr befreien.

ZANKEL: Für mich ist das ein Paradoxon. In den 70er- und 80er- Jahren des vorigen Jahrhunderts hatten wir es mit einer Ideologisierung der Gesellschaft zu tun, geprägt von den Parteizeitungen – damals gab es nur wenige unabhängige Zeitungen. Diese politische Frontstellung war überwunden. Jetzt schlägt das Pendel zurück in Richtung einer Ideologisierung, wo man als Büttel der Regierung gilt, nur weil man diese oder jene Meinung vertritt.

Hat die Skepsis gegenüber den Corona-Maßnahmen und das Misstrauen gegenüber Regierung und Medien damit zu tun, dass der Glaube an die Kraft des Miteinanders verloren gegangen ist?

ZANKEL: Das ist ein interessanter Denkansatz, weil das ja für alle Großorganisationen zutrifft. Die Bindekraft der Glaubensgemeinschaften ist im Schwinden, dasselbe gilt für den ÖGB oder die Parteien.

PATTERER: Wobei ich es als verstörend empfinde, dass beide Seiten jeweils mit denselben Begriffen operieren: Sowohl die Mehrheit als auch die Minderheit beanspruchen die „Freiheit“ für sich, beide werfen der Gegenseite „Tyrannei“ und „Diktatur“ an den Kopf. Es gibt keinen gemeinsamen Boden mehr, kein klares Verständnis davon, was unter „solidarisch handeln“ verstanden wird.

ZANKEL: Das zusätzlich Bestürzende ist, dass die jetzige Auseinandersetzung in einer Terminologie geführt wird, die wir aus den schrecklichsten Jahrzehnten des vergangenen Jahrhunderts kennen.

PATTERER: Die einzige Möglichkeit, die uns als Zeitung bleibt, um die Verhärtungen aufzubrechen, ist, dass wir uns deutlich erklären: Warum wir etwas veröffentlichen, nach welchen Kriterien wir entscheiden.

EBERHARDT: Das Interview mit FPÖ-Kickl fand ich entbehrlich. Er bekommt zu viel Publicity, obwohl er selbst nicht bereit ist zum Diskurs. Ein Recht auf die Verbreitung von Falschinformationen hat niemand, finde ich.

ZANKEL: Ich halte es für notwendig, das so zu bringen. Die Meinung der Zeitung über Herrn Kickl ist ohnehin jedem Leser bekannt. Aber man hätte das Interview vielleicht einbetten müssen, ergänzen um die Wahrnehmungen der Journalisten bei der Veranstaltung, bei der das Interview gemacht wurde.

Die Medien möchten Orientierung geben. Können sie das, wenn man ihnen nicht mehr vertraut?

ZANKEL: Ich denke, in eine Zeitung, die zu mehr als 90 Prozent von Abonnenten gelesen wird, gibt es noch ein Grundvertrauen. Auch wenn nicht jeder Leser alles mit Beifall aufnimmt.

Welche Unterstützung brauchen junge Journalistinnen und Journalisten, um ihren Mut und ihre Ideale nicht zu verlieren?

EBERHARDT: Ich wünsche mir, dass die ältere Generation öfter die Kontrolle aus der Hand gibt, dass sie sich eingesteht, von manchen Dingen keine Ahnung mehr zu haben, dass wir aber auch Fehler machen dürfen. Ich sehe viele, die manches gar nicht erst versuchen, weil sie Angst vor Konsequenzen haben. Aus meiner Perspektive als junge Frau ist mir auch ein anderer Umgang mit Sexismus ganz wichtig. Sexistische Witze will ich einfach nicht mehr hören. Und ich wünsche mir, dass es irgendwann keinen Unterschied mehr macht, ob man ein Mann oder eine Frau ist.

PATTERER: Es ist klar, dass eine Chefredaktion oder der Kreis der Ressortleiter kein Männerbund mehr sein kann. Das ist nicht nur aus ethischen, sondern auch aus unternehmerischen Gründen wichtig. Diversität ist ein Erfolgsfaktor. Wir haben viele starke weibliche publizistische Stimmen nach außen. Bei sexueller Belästigung gibt es null Toleranz.

Die Regierungspolitik war zuletzt davon geprägt, dass Politiker offensiv die Nähe zu Journalisten gesucht haben, auch zu den Chefetagen. Waren wir zu wenig widerständig, wenn es darum ging, die Eliten zu hinterfragen?

PATTERER: Das Auspendeln von Nähe und Distanz ist ein berufsbegleitendes Thema, vom ersten bis zum letzten Arbeitstag. Dass man sich von der Nähe blenden lässt, andererseits die Nähe Voraussetzung ist, um zu Informationen zu kommen, das ist so. Die äußerliche Nähe ist dabei nicht so wichtig, natürlich muss man in leitender Position mit aufs Parkett. Der Gradmesser ist die innere Distanz.

EBERHARDT: Was ich wichtig finde, ist, dass man sich in eurer Funktion bewusst ist, dass man auch Teil der Elite ist.

Wo sind dem Machtstreben von Politikern Grenzen zu setzen?

PATTERER: Die Medien waren bei Sebastian Kurz ein Teil seines Machtverständnisses. Da kommt es drauf an, wie man sich diesem Anspruch entzieht.

Fühlten Sie sich benutzt?

PATTERER: Die stille Absicht gibt es auf beiden Seiten. Beide wollen was. Zudringlichkeiten, wenn das mediale Außenbild mit seinem Selbstbild nicht übereinstimmte, waren permanent da. In der Art, wie Kurz auf kritische Kommentare reagiert hat, war er von einer unsouveränen Empfindlichkeit, aber nicht nur er. Auch ein Christian Kern hat lange SMS am frühen Morgen geschrieben.

Inserate- und Medienkooperationen sind ein Geschäft, aus dem so mancher redaktionelle Ansprüche ableitet. Gibt es da einen Graubereich?

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PATTERER: Der Graubereich besteht in der Anomalie, dass es eine schmählich geringe offizielle Presseförderung gibt und eine aufgebläht inoffizielle über den Kanal politischer Inserate. Die sind per se okay, aber nicht, wenn damit Wohlverhalten gezüchtet wird. Wir sind da unempfänglich, das kann man nachlesen. Ein schmaler Grat sind die Kooperationen, wenn also Institutionen auf uns zukommen mit dem Vorschlag, eine Serie zu einem Thema zu machen. Das klären wir nicht mehr nur in der Chefredaktion, sondern beziehen den Redakteursrat ein. Gemeinsam entscheiden wir dann, ob eine ausgeschilderte Kooperation publizistisch zu rechtfertigen ist.