Wir leben in einer materiell geprägten Welt, was der Hinwendung zu Dingen, deren Wert sich nicht mit Geld messen lässt, eine nochmals erhöhte Dringlichkeit gibt. Es ist logisch und notwendig, dass unter diesen Umständen viel von Werten die Rede ist, die unserem Leben und Zusammenleben einen Sinn verleihen. Es hat fast den Anschein, dass je unsicherer sich eine Gesellschaft ihrer Werte ist, desto mehr darüber gesprochen wird.

Die Pandemie stellt unser Wertempfinden auf die Probe. Der erforderliche Ausgleich zwischen Grundwerten wie „Freiheit“ und „Solidarität“ ist längst zu einem Schlachtfeld verkommen, in dem nicht die Vernunft, sondern fast ausschließlich die Emotion den Ton angibt. Das irritiert ebenso wie der Umstand, dass sogenannte europäische Werte mit ertrinkenden Menschen zwar keinesfalls in Einklang zu bringen sind, aber in der Realität seit Jahren koexistieren. Werte und Wertewandel oder gar der Werteverfall mutieren nicht selten zu Kampfvokabeln in Debatten, in denen es anscheinend gar nicht mehr um Werte, sondern um die Absicherung von Privilegien oder bloßer Macht geht. Stichwort: Integration.

Dabei sind Werte zuallererst gar nichts Heiliges, von dem man nur mit Ehrfurcht reden kann, sondern laut wissenschaftlicher Definition etwas Praktisches, Alltägliches. Christian Friesl ist Theologe und Werteforscher an der Universität Wien: „Werte sind keine Prinzipien, auf die sich alle einigen, sondern Vorstellungen des Wünschenswerten auf persönlicher und gesellschaftlicher Ebene.“ Ob diese Werte, nach denen sich eine Einzelperson oder eine ganze Gesellschaft orientiert, gut oder sinnvoll sind, ist schon wieder eine ganz andere Frage: Sie fällt in den Bereich der Ethik, der Moral. Hier würde dann nicht mehr danach gefragt, wie wir leben wollen, sondern danach, wie wir leben sollen.

Dennoch spielt die Frage nach den Werten eine zentrale Rolle, nicht nur für die Sinngebung von Einzelnen, sondern für die Weltgesellschaft. Denn Werte haben offenbar die geniale Eigenschaft, die Grenzen von Kulturen, Glaubenssystemen und Weltanschauungen überschreiten zu können. Werte sind so universell verständlich, dass sie über die Vorstellungen von Religionen und Weltanschauungen hinausgehen. Sie bilden eine Art Lingua Franca oder, wenn man so möchte, eine Weltwährung. Egal, ob Atheist oder Katholikin, Marxist oder Materialist, Sozialarbeiter, orthodoxe Jüdin, Bankmanagerin, Hindu oder Indigener aus dem Regenwald: Jede und jeder kann sich an dieser Diskussion beteiligen und einen Standpunkt einbringen. Jeder hat Wünsche und damit auch Werte.

Für den Schweizer Philosophen und Friedrich-Nietzsche-Spezialisten Andreas Urs Sommer sind Werte zwar von Menschen erdachte Fiktionen, aber dennoch absolut notwendig, nicht nur weil sie zur Beziehungspflege zwischen Kulturen, sondern auch als „Kitt“ der säkularisierten Gesellschaft dienen. Sommer vertritt dabei die Ansicht, dass einzelne Werte keinen universellen Anspruch erheben können, weil Werte an sich so wandelbar seien. Auch Kulturtheoretiker des globalen Südens sind skeptisch, was den Universalismus von Werten betrifft. Es ist weder überraschend noch unverständlich, wenn man in Afrika den ehernen Prinzipien der ehemaligen Sklavenhalternationen Europas mit viel Misstrauen entgegentritt.

Was wir angesichts solcher Debatten erkennen, ist die faszinierende Doppelnatur von Werten zwischen Universalismus und Relativismus. Anders als ein individueller oder kollektiver Glaube haben sie keinen Absolutheitsanspruch, sondern sind der Diskussion zugänglich beziehungsweise unterworfen. Selbst wenn sie keine universell gültigen Prinzipien sein können, sind sie universell besprechbar und verhandelbar. Folgt man den Gedanken eines Philosophen wie Sommer, sind solche Werte-Diskussionen keineswegs der Untergang der Zivilisation, weil sie unverrückbare Wahrheiten und Traditionen infrage stellen und zerstören, solche Diskussionen brächten ganz im Gegenteil die Wichtigkeit von Werten überhaupt erst zum Vorschein. Durch das Reden darüber, was sie eigentlich sind.

Für Christian Friesl sind praktische Überlegungen ebenso essenziell: „Auf gesellschaftlicher Ebene wird in Wertedebatten ein Konsens angestrebt. Etwa die Werte der EU, die in der Lissabon-Erklärung formuliert worden sind. Auf persönlicher Ebene entstehen Werte im Rahmen der Erziehung und richten sich stark danach aus, was etwa im Elternhaus wichtig ist. Individuelle Werte brauchen keinen Konsens, außer mit mir selbst.“

Einen Mangel konstatiert der Werteforscher bei der Übertragung von solchen konsensualen, gesellschaftlichen Werten in den Alltag: „Ein bisschen leiden die ,großen Werte‘ darunter, dass sie von den verschiedensten Institutionen, die sich für sie einsetzen sollten – Politik, Kirchen, NGOs – zu wenig durchbuchstabiert werden. Fragen wie: ,Was ist Freiheit?‘ oder ,Wie funktioniert Solidarität?‘ benötigen eine zeitgemäße Übersetzung für die Menschen.“ Und für Friesl müsste man die Fragen danach „wie wir leben wollen“ und „wie wir leben sollen“ ergänzen: Um die Frage, ob wir diese Werte auch leben. Die Pandemie wird seiner Ansicht nach zu einer großen Werteschule werden.

Dass Wertvorstellungen dem Menschen gleichsam eingegeben sind (von der Natur oder einem höheren Wesen), wird von der Wissenschaft angezweifelt. Ebenso wird die Vorstellung universell gültiger Werte sehr kritisch gesehen, von der Ethnologie sogar mit guten Gründen komplett abgelehnt. Das alles jedoch schmälert die Bedeutung von Werten keineswegs. Man könnte in Nachfolge von Andreas Urs Sommer formulieren: Die Debatten und der Streit um Werte werden nicht enden. Gerade das macht sie vermutlich so wertvoll.

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