Sie beschäftigen sich seit Langem mit der Frage, wie Ziele besser erreicht werden können. Was raten Sie allen, die sich am heutigen 1. Jänner keine Vorsätze mehr vornehmen, weil sie sich nicht nur wegen der Covid-19-Einschränkungen denken, es kommt ohnehin alles anders?
SEIWERT: Vorsätze sind unverbindliche Absichtserklärungen,  Wischiwaschi. Sie sind weder konkret, noch haben sie einen zeitlichen Bezug, noch sind sie irgendwie motivierend oder realistisch. Die meistgenannten sind: Mehr für die Gesundheit tun, mehr Sport betreiben. Nach ein paar Wochen sind sie aus den Augen, aus dem Sinn. Deshalb empfehle ich statt vagen Vorsätzen konkrete Ziele zu definieren. Nicht „Ich will mehr Sport betreiben“, sondern genau festlegen: Ich will bis zum 31. Jänner soundso viele Kilo abnehmen. Das Ziel muss messbar, realistisch, konkret sein.

Und es muss, wie Sie im Neujahrsbuch der Edition Kleine Zeitung „Was uns im Leben weiterbringt“ schreiben, mit Emotionen verbunden sein, weil sonst jedes Ziel von vornherein eine Totgeburt ist. Warum?
Ein Ziel muss mich gefühlsmäßig erreichen. Es ist wichtig, es sich bildhaft vorzustellen, nur dann habe ich eine emotionale Verbindung. Wer abnehmen will, muss sich vorstellen, wie großartig er danach aussehen wird.

Menschen, die 2020 arbeitslos wurden, werden sich bei manchen Vorsätzen denken: „Solche Sorgen möchte ich haben.“
Das erinnert an den Spruch eines Zen-Meisters: „Derjenige, der keine Schuhe hatte, wurde ganz still und bescheiden als er jemand sah, der keine Füße mehr hatte.“ So hart das jetzt klingt, es geht einigen oder leider immer mehr unter uns schlechter als vorher und deshalb ist es gut, sich zu Jahresbeginn auf das zurückzubesinnen, was wir haben und dankbar zu sein. Dankbarkeit ist ein Gefühl, das oft verloren gegangen ist.

Warum?
Wenn Menschen weniger haben, sind sie schneller mit weniger zufrieden. Vor 50 Jahren hatten die Kinder wenige Spielsachen und haben sich über ein Holzpferd oder Holzspielzeug gefreut. Heute muss es die neueste Playstation sein. Die Ansprüche steigen mit zunehmender Sättigung, das ist einfach so.

Sie beschäftigen sich seit Jahrzehnten mit dem Umgang mit der Zeit. Werden die Lockdowns uns nachhaltig verändern?
Wir besinnen uns wieder ein Stück auf uns selber, auf die Familie und beschäftigen uns mehr miteinander. Das zeigen auch die Analysen über Verkäufe von Spielen, Brettspielen, Gesellschaftsspielen, Büchern, die zugenommen haben. Besinnlichkeit im positiven Sinne. Die Zeit ist neben der Gesundheit das kostbarste Gut. Geld können wir wieder gewinnen, Zeit, die verflossen ist, bekommen wir nie wieder zurück. Es kann schneller gehen, als man denkt, dass ein Arzt sagt: Sie haben noch zwei Wochen zu leben. Ich hoffe und meine und wünsche, dass wir alle ein Stück demütiger geworden sind.

Der Psychiater Paulus Hochgatterer meint, sobald die Impfung wirken wird, werden wir uns wieder wie Siegfried fühlen, der nur eine kleine, verwundbare Stelle hat. Er glaubt, dass der Mensch eigentlich unbelehrbar ist und sofort wieder in den alten Rhythmus zurückfallen wird.
Möglich, ich weiß es nicht. Dass der Mensch unbelehrbar und uneinsichtig ist, unterschreibe ich sofort.

Und weil er unbelehrbar ist, geht er mit der Lebenszeit, dem kostbarsten Gut, oft achtlos um?
Menschen verändern sich unter zwei maßgeblichen Voraussetzungen: erstens Schmerz, zweitens Spaß und Vergnügen. Meistens ist es Schmerz, den wir erst durchleben müssen, um dann etwas anders zu machen. Das berühmte Beispiel mit der heißen Herdplatte, vor der die Mutter hundertmal warnt. Einmal die Hand verbrannt, wird es nicht mehr vergessen. Wir erleben es jetzt auch in der Corona-Krise. Appelle an die Vernunft nützen nicht viel. Der Staat muss mit drakonischen Strafen restriktiv einschreiten. Bei einer Party mit zehn Leuten wurde kürzlich jeder mit 500 Euro bestraft, die Feier kostete dann insgesamt 5.000 Euro. Ohne Strafe geht es offenbar nicht. 

Sie fordern ihn Ihrem Buch auch auf, Mut zur Muße zu haben. Warum benötigt man dafür Mut?
Ich will es an einem Beispiel verdeutlichen. Das Faultier heißt im englischen sloth, da steckt das Wort „slow“ drinnen, weil es sich sehr langsam durchs Leben bewegt. Was machen wir daraus? Wir machen daraus ein Faultier und setzen langsam und innehalten gleich mit faul, weil wir vom Leistungswillen getrieben sind. Das halte ich für falsch. Viktor Frankl schrieb über die Suche nach dem Sinn. Wir sind aber keine Sinngesellschaft, es geht um schneller, höher, weiter, effektiver. Alles, was nicht in diese Mentalität passt, wird abgelehnt, als faul angesehen. Da sollten wir toleranter werden und auch andere Lebensformen tolerieren.

Frankl sagte auch, wir allein bestimmen, wie wir auf alles, was uns widerfährt, reagieren. Das klingt einfach, fällt aber schwer. Warum?
Weil wir alle in Zwangsverpflichtungen stecken, Verpflichtungen der Familie oder der Firma gegenüber.

Und deshalb stellen Sie gerne die Frage „Haben Sie eine Lebensvision oder gehören Sie schon zu den wunschlos glücklichen Zeitgenossen, die ihr Dasein dem Zufall überlassen“?
Richtig. Vor allem Frauen sollten sich öfter überlegen, wie sie Kapitänin ihres eigenen Lebensschiffes werden. Sie opfern sich oft für den Mann und die Kinder auf, kümmern sich um alles, sind Nachhilfelehrerin, Taxifahrerin, Waschfrau, Putzfrau, Bügelfrau, Köchin und oft teilzeiterwerbstätig. Dann sind die Kinder aus dem Haus und er hat vielleicht eine Neue, die jünger ist als die älteste Tochter. Ich überzeichne bewusst, aber ich empfehle Frauen, die sich oft selber an die zweite Stelle setzen: Seid ein Stück egoistischer, denkt auch an euch. Eine der großen Lebenslügen ist übrigens zu sagen, man habe keine Zeit. Da meint man in Wirklichkeit, man hat dafür keine Zeit, weil anderes wichtiger ist.

Und über die Frage „Was ist mir wichtig?“ wird zu wenig nachgedacht?
Wir haben nicht gelernt, darüber nachzudenken. In Bhutan ist der Glücksindex wichtiger als das Bruttosozialprodukt. Das ist extrem, aber es sollte sich zumindest jeder seinen eigenen Glücksindex schaffen und sich fragen: „Was gehört für mich zum Glücklichsein?“

Im Sinne Ihres Appells, dass an jedem Tag „der erste vom Rest unseres Lebens“ beginnt?
Ja, es macht bewusst, dass wir versuchen sollten, immer einen erfüllten Tag zu haben und abends zu fragen: Wofür bin ich dankbar? War es der Duft der Rosen, ein lachender Mensch? Im Grunde geht es darum, so zu leben, als würdest du ewig leben, aber auch so, als hättest du nur noch einen Tag.

Info: "Was uns im Leben weiterbringt", Prof. Dr. Lothar Seiwert, 160 Seiten, 16,90 Euro. Exklusiv erhältlich auf shop.kleinezeitung.at oder 0800 556640526 und ab 18.1. in allen Büros der Kleinen Zeitung