Ziemlich sicher hat er es sich anders gedacht: Mit der politischen Expertise ein wenig glänzen und sich angenehm vom britischen Querkopf Boris Johnson – auch frisurentechnisch – abzuheben. Dass man als früherer Labour-Chef dann ob des Aussehens durch die Memes-Maschine gedreht wird und etwa mit „Tiger King“ Joe Exotic verglichen wird, hat der Altpolitiker Tony Blair wohl auch noch nicht erlebt. Für gewöhnlich ist das eher ein Politikerinnenmoment: aufgrund seines Aussehens bewertet zu werden. Dass Blair zuletzt mit seinen längeren weißen Haaren für Aufsehen sorgte, hat natürlich mit seinem Milieu zu tun: Lange Haare bei Politikern sind nach wie vor eine Seltenheit.

Wiewohl lange Haare alles andere als nur eine Frisur sind, sie sind ein mächtiges politisches Instrument. Zwar mag das in der Früh beim ersten Blick in den Spiegel täuschen, aber der Blick in die Geschichte erzählt anderes. „Lange Haare sind ein Zeichen für Macht, ein Zeichen für Stärke und kriegerischen Geist, das sieht man schon in der Bibel bei Samson. Ihm werden die Haare abgeschnitten, nachher ist er schwach“, erklärt Michaela Lindinger, Modeexpertin und Kuratorin im Wien-Museum. Aber warum gerade die Haare? „Sie sind neben den Fingernägeln das Einzige, das sogar beim erwachsenen Menschen noch wächst. Während alles andere altert. Deshalb waren die Haare seit jeher der Sitz der Macht und der Kraft.“ Grundsätzlich sei langes Haar bei Männern in Europa die normale Haarlänge gewesen, ob Germanen oder Kelten, kurze Haare waren die Frisur der Verlierer. Wer im Kampf gefangen genommen wurde, dem wurden die Haare abgeschnitten oder geschoren.

Macht weg, Haare weg: „Daher kommt auch unser Ausdruck, die Gscherten‘, das sind sozusagen die ohne Haare, die unter den Mächtigen stehen.“ Die lange Haarpracht der Herrscher war auch im Mittelalter üblich, wie etwa bei den Merowingern, die lange Zöpfe trugen. Im 17. und 18. Jahrhundert wurde die sogenannte Allongeperücke zum unübersehbaren Kleidungsstück der mächtigen Herren: eine lange, wallende Lockenpracht, wie sie etwa der Sonnenkönig Ludwig XIV. zu tragen pflegte. Ende des 18. Jahrhunderts kam es jedoch zu jenem Umkehreffekt, der bis ins Heute nachwirkt: Die Haare wurden vom Symbol der Macht zum Symbol der Revoluzzer, wie Lindinger aufklärt: „Das begann mit der Französischen Revolution. Die Revolutionäre wie etwa Danton und Marat sind alle mit langen und wirren Haaren aufgetreten und haben sich mit diesem Aussehen gegen die Weißhaarperücken des Ancien Régime gewehrt.“

Langhaarige gegen Langhaarige, doch so soll es nicht lange bleiben: Napoleon gab den Feldherrn mit raspelkurzen Haaren und auch im Biedermeier flanierte man brav mit Kurzhaarschnitt. Wer also künftig den Revoluzzer geben wollte, der ließ sich einfach die Haare wachsen. Doch ganz so einfach war es dann doch nicht, denn die Auflehnung gegen die Mächtigen mit einem so offensichtlichen Signal konnte mitunter auch lebensgefährlich sein. Bestes Beispiel waren die sogenannten Schlurfs die schon ab den 1930er-Jahren in Wien mit langen Haaren und überlangen Koteletten gegen die Nationalsozialisten auftraten. Der politische Widerstand der Arbeiterjugend, die sich im Dunstkreis der Jazzmusik gebildet hat, lebte gefährlich. Die erniedrigende Haarschur war noch die milde Strafe, andere wurden in die Wehrmacht eingezogen oder kamen ins Jugendkonzentrationslager.



Geradezu harmlos war dagegen die Hippie-Ära, in der lange Haare ebenso als Signal der Auflehnung gegen die biederen Altvorderen großflächig zum Einsatz kamen. Das Musical „Hair“ verdichtet Ende der 1960er-Jahre diese Ausbruchsversuche aus der Enge der Gesellschaft. Dass sich lange Haare als dankbarer Durchlauferhitzer im langen, ruhigen Fluss der Elterngeneration eignen, weiß man in der Popkultur schon lange. Und noch immer sind sie ein fixes Pflaster zum Runterreißen im popkulturellen Erste-Hilfe-Kasten. Bisweilen kann man sogar im 21. Jahrhundert noch als Heavy-Metal-Fan in ländlicher Umgebung für verschreckt-verstörte Blicke sorgen. Was ein Haufen Keratin so alles zustande bringen kann.

Donald Sutherland
Donald Sutherland © imago images/PPE (PPE via www.imago-images.de)

Ob es heute Role Models wie Brad Pitt oder auch Donald Sutherland noch braucht? Wohl nicht, denn langes Haar bei Männern ist längst wieder zurück, wenn auch nicht in allen Berufsgruppen: „Gerade durch die Hipster sind lange Haare bei Männern vor allem in den letzten fünf Jahren wieder in Mode gekommen“, so Michaela Lindinger. Und noch eine Veränderung zeigt sich immer öfter auf kurzen wie auch auf längeren Haaren: „Ich war nach dem Lockdown beim Friseur und rund um mich saßen drei junge Männer. Die wollten nicht nur einen Haarschnitt, sondern die kleinen grauen Haare an der Schläfe übertönt haben. Auch da stelle ich einen Wandel fest.“ Dabei hatten zumindest die Herren seit jeher einen Vorteil bei grauen und vor allem bei weißen Haaren: Sie gelten als Zeichen der Weisheit, wohingegen es bei den Frauen als sichtbares Zeichen des Alterungsprozesses gesehen wird. Bis sich hier ein grundsätzlicher Wandel einstellt, dürften wohl noch viele Zöpfe geflochten werden. Und Tony Blair? Vielleicht kriegt er ja in der Serienadaption von „Herr der Ringe“ die Rolle des Zauberers Gandalf? Wäre doch zauberhaft!