1. "Kinder brauchen Grenzen."

Nein. Was sie tatsächlich brauchen, ist es, die Grenzen des anderen kennenzulernen: Wo höre ich auf und wo beginnt der andere? Darüber lernt man ganz viel über Respekt und wie Beziehung funktioniert. Wichtig ist also, dass die Erwachsenen ihre eigenen Grenzen wahrnehmen und anerkennen. Ich höre sehr oft von Eltern, dass sie zum 37. Mal in dieselbe Diskussion mit ihren Kindern gehen und dabei total ihre eigenen Grenzen überschreiten. Was lernt das Kind daraus? Ich brauche nur Ausdauer, dann setze ich durch, was ich möchte. Aber auch: Ich kann die Grenze meiner Eltern nicht wahrnehmen. Das was ich spüre und das, was mir gesagt wird, stimmt nicht überein. Und das Kind sucht nach dem Halt darin, es sucht nach der Grenze. In unserer Generation haben wir ganz viele Grenzüberschreitungen erfahren, wir wurden in unserer Persönlichkeit nicht geachtet und das wirkt in uns fort. Dann bin ich unsicher, ob ich meine eigenen Grenzen überhaupt aufzeigen darf. Abgrenzung ist das größte Thema überhaupt zwischen Eltern und Kind. Wenn man seine eigenen Grenzen ganz klar kennt, und wenn das Kind das spürt, dann wird auch nicht lange diskutiert, denn dann ist es den Eltern wirklich ernst und das merkt das Kind. Wenn ich dem Kind mit dem Überschreiten meiner Grenzen irgendetwas recht machen will, ist niemandem geholfen.

2. "Kinder brauchen Konsequenzen."

Strafen sind schon bei vielen Eltern tabu und nun werden die vermeintlich freundlicheren Konsequenzen ins Spiel gebracht. Das ist eine Täuschung und schadet dem Vertrauen. Mache ich zum Beispiel meine Hausaufgabe nicht, ist eine logische Konsequenz, dass ich Ärger mit dem Lehrer bekomme. Wenn die Eltern jetzt aber sagen: „Wenn du deine Hausaufgaben nicht machst, darfst du nicht fernsehen“, dann ist das eine Strafe. Das ist nichts, was automatisch eingetreten wäre, da stelle ich künstlich einen Zusammenhang zwischen Hausübung und Fernsehen her. Das Wort Konsequenz redet im Grunde das Wort Strafe schön. Damit rechtfertigt man sich vor sich selbst: "Ich schade meinem Kind nicht, ich bestrafe es doch nicht, das sind nur Konsequenzen." Wenn ich so ehrlich bin, das Wort Strafe zu nennen, dann kann ich mich fragen, ob ich wirklich bestrafen möchte. Denn Strafen lehren das Kind nur, zu funktionieren, weil es Angst hat von demjenigen abgelehnt zu werden, dem es bedingungslos vertrauen möchte.

3. "Der will doch nur Aufmerksamkeit."

Das Kind hält sich nicht an Regeln, ist besonders laut, fordernd oder weinerlich? Da heißt es oft: "Es will ja nur Aufmerksamkeit!" Aber warum ist Aufmerksamkeit ein böses, alle Regeln und Bedürfnisse vernichtendes Ungeheuer, das wächst und sich vermehrt, je mehr Raum man ihm gibt? Das Gegenteil ist der Fall. Gesehen-, Gehört- und Wahrgenommen-Werden sind Ausdruck von Wertschätzung und Liebe für den Menschen, der einem das meiste auf der Welt bedeutet. So wie wenn es sagt, dass es hungrig ist. Und wenn man satt ist, hört man doch auch auf zu essen?

4. "Ich kann etwas falsch machen im Umgang mit meinem Kind."

Bei allen, die sich diese Frage schon stellen, ist es unwahrscheinlich, dass die großen und wichtigen Dinge richtig schieflaufen. Was jetzt noch falsch laufen kann, ist, dass man in "Richtig-oder-Falsch"-Kategorien denkt und sich damit so unter Druck setzt, dass man jegliche Intuition verliert. Am besten man tauscht "richtig oder falsch" gegen "gut oder schlecht für das Kind" und "gut oder schlecht für sich selbst" aus. Wenn ich das mache, ist auch klar, dass man keine Gewalt ausüben darf – psychischer oder physischer Natur. Tut man es dennoch, sollte man sich dringend Unterstützung holen.

Familiencoach Alexandra Köhler
Familiencoach Alexandra Köhler © Privat

5. "Vertrauen ist gut, Kontrolle ist besser"

Nein, Vertrauen ist Liebe, Kontrolle ist Angst. Bindung ist für Kinder essenziell, sie sichert ihr Überleben. Wenn ein Kind das Gefühl hat "Wenn ich jetzt nicht bin, wie die anderen mich wollen, liebt man mich nicht mehr", gefährdet das sein Überleben. Dann entsteht ein unterversorgtes Bedürfnis nach Bindung, Schutz und Sicherheit - und das wirkt in uns Erwachsenen fort. Jedes Mal, wenn wir dann einen Konflikt mit jemandem haben, neigen wir dazu, es recht machen zu wollen. Eltern müssen also ureigene Ängste überwinden, weil ich diese Ängste sonst an mein Kind weitergebe, es begrenze, beschütze, wo es nicht notwendig ist. Was kann ich meinem Kind zutrauen und wo bin ich von alten Ängsten gesteuert und möchte daher die Kontrolle haben? Der Gegensatz von Liebe ist nicht Hass, sondern Angst. Wenn niemand mehr Angst hat, bleibt nur Liebe. Die Herausforderung ist, Kinder so vorzubereiten, dass sie die Verantwortung für sich selbst mit zunehmendem Alter immer besser übernehmen können. Man kann nicht immer danebenstehen und alles kontrollieren. Wenn das Kind stark ist, fällt es leichter, zunehmend auf die Kontrolle zu verzichten. Stark wird es durch Selbstvertrauen - und das entsteht durch unser Vertrauen.

6. "Ich trage Verantwortung dafür, wie sich mein Kind entwickelt."

Jein. Man trägt Verantwortung dafür, ob man klar und aufgeräumt seinem Kind vorlebt, wie Glück, Leben und Bewusstsein funktionieren und welches Werkzeug man in seinen Rucksack packt, damit es zu jedem Zeitpunkt seines Lebens klarkommen kann. Taten sind mehr als Worte. Diese Verantwortung endet jedoch vor der Stirn des Kindes, weil es ein eigener Mensch ist, mit Recht auf eigene Erfahrungen und tatsächlich auf eigene Fehler. Man trägt also Verantwortung dafür, wie es sich entwickeln kann, nicht aber dafür, wie es sich tatsächlich entwickelt.