Wagte man sich Mitte Juni als einer der ersten hungrigen Venedigfans in die Stadt, übertraf das Erlebnis die kühnsten Reiseträume. Den atemberaubenden Anblick des sich im Wasser spiegelnden Markusdoms, umspielt von sanften Klavierklängen aus dem berühmten Caffè Quadri, teilte man sich mit einer Handvoll anderer staunender Glückseliger. Die Einheimischen trafen sich heiter zu Cappuccino, Aperol und Co. Die Venezianer hatten ihre Stadt zurück. Schön und gut! Aber damit können die meisten hier in der touristischen Monokultur nicht überleben.

In der Zwischenzeit blüht die Stadt als Touristenmagnet wieder etwas auf – und dies in erfreulich beschaulicher Entspanntheit. Zumindest für den Gast. Man fühlt sich willkommen, es lässt sich gemütlich ohne Drängen und Schieben auf den ausgetretenen Pfaden schlendern. Auf Seitenwegen riskiert man fast schon etwas Einsamkeit. „Wir haben die Stadt noch nie so ruhig gesehen und fühlen uns hier, mit allen Corona-Maßnahmen, viel sicherer als zu Hause. Wunderbar, dass viel weniger Leute hier sind als zuvor, ein ganz neues Venedig-Erlebnis“, schwärmt Daniela, die mit ihrer Familie aus Oberösterreich gekommen ist.

Hatte man den Markusdom im Juni noch für sich allein, kehren nun Touristen langsam in die Stadt zurück
Hatte man den Markusdom im Juni noch für sich allein, kehren nun Touristen langsam in die Stadt zurück © Irina Demenkova/stock.adobe.com

Auf Sicherheit wird hier tatsächlich vorbildlich gesetzt. Kein Museumseintritt ohne vorheriges Fiebermessen, verpflichtende Maskierung in allen geschlossenen Räumen, strenge Verwarnung, sollte die Maske im Vaporetto verrutscht sein, Desinfektionsmittel und Abstandsaufforderungen allerorts.

Dass man sich auf eine längere Maskenperiode – die mit dem Karneval nichts zu tun hat – einstellt, beweist der vor Kurzem auf der Strada Nuova eröffnete Shop „La Maska“. Hier findet man alles, was von Angesicht zu Angesicht bunt und schick Corona den Kampf ansagt. Und Maskentragen ist man in Venedig ohnehin seit jeher gewohnt.

Der erste Geschäft für den modischen Mund-Nasen-Schutz in der Serenissima
Der erste Geschäft für den modischen Mund-Nasen-Schutz in der Serenissima © Regina Rauch-Krainer

Dennoch stehen Touristiker und Kulturschaffende vor großen Herausforderungen. Kreativität und Umdenken sind angesagt, um einerseits den Gästen trotz coronabedingter Einschränkungen Attraktives bieten und andererseits wirtschaftlich überleben zu können.

Auf dem hübschen Frühstücksplatz am Wasser seines Hotels Tintoretto erklärt Gherardo Toso als Vertreter der „Associazione Veneziana Albergatori“ die Überlebensstrategie der 350 Häuser in der Vereinigung: „Viele gewähren bis zu 50 Prozent Rabatt. So ist es uns zumindest gelungen, unsere Hotels im August sehr zufriedenstellend zu füllen.“ Auch die Gastronomie schlägt in dieselbe Kerbe und erfreut mit teils moderateren Preisen als je zuvor.

Hotelier Gherardo Toso
Hotelier Gherardo Toso © Regina Rauch-Krainer

Das weltberühmte Peggy-Guggenheim-Museum musste wie alle Kulturbetriebe schwere Verluste aufgrund des Lockdowns hinnehmen und kann erst Stück für Stück wieder aufsperren. „Mit einer Crowdfunding-Kampagne wollen wir das Museum wieder zur Normalität zurückführen“, erklärt Direktorin Karole P. B. Vail, der das Erbe ihrer Großmutter als eine der wichtigsten Sammlungen für europäische und amerikanische Kunst des 20. Jahrhunderts in Italien sehr am Herzen liegt.

Ab September ist der Kunsthotspot am Canal Grande wieder sechs Tage pro Woche geöffnet – aufgrund der hohen Sicherheitsauflagen aber nur für eine streng limitierte Anzahl an Besuchern, die online gebucht haben. Das gilt für die meisten kleineren Museen.

Karole P. B. Vail steuert das Guggenheim-Museum durch die Coronakrise
Karole P. B. Vail steuert das Guggenheim-Museum durch die Coronakrise © MATTEO DE FINA

Die großen, geräumigen Highlights der venezianischen Kulturlandschaft sind hingegen wunderbar leicht zu erobern: Fast kein Anstellen bei den Gallerie dell’Accademia und nicht einmal beim Dogenpalast. Ja sogar für die ehrwürdige Basilica San Marco braucht man kaum Wartekondition.

Der Kirchenraum ist zwar wegen Renovierungsarbeiten aufgrund des verheerenden Hochwassers im November derzeit nur für Besucher der täglichen Messen zugänglich, dafür entschädigt das Museum im Obergeschoß. Es gewährt Einblick in das große geistige, kulturelle und materielle Erbe von San Marco und einen großartigen Ausblick auf die Piazza und die Piazzetta.

Sehenswert ist sowohl die Ex Chiesa San Lorenzo, als auch die Ausstellung in ihren Inneren
Sehenswert ist sowohl die Ex Chiesa San Lorenzo, als auch die Ausstellung in ihren Inneren © Enrico Fiorese

Auch die Biennale-Verantwortlichen haben sich einen kleinen Ersatz für die heurige Absage der Architektur-Biennale einfallen lassen. Sie öffnen das sonst nur während der Veranstaltung zugängliche Ausstellungsgelände dem Publikum und bieten geführte Touren durch die „Giardini“ mit ihren rund 30 Länderpavillons, die als Meisterwerke der Architektur des 20. Jahrhunderts gelten. Das Arsenale lädt zu einer spannenden Zeitreise von der Gründung der einstigen Schiffswerften im Mittelalter bis zur Revitalisierung des imposanten Geländes.

Einen kulturellen Sidestep der feinsten Art bietet die Installation „Ozeanraum“ in der riesigen, umwerfend mystisch anmutenden Ex Chiesa San Lorenzo. Im gewaltigen Bau soll einst Marco Polo seine letzte Ruhestätte gefunden haben, Antonio Vivaldi schrieb hier im 17. Jahrhundert Musikgeschichte. Nach einem beinahe 100-jährigen Dornröschenschlaf etablierte sich der Ort als Biennale-Ausstellungsstätte und lädt wie zum Trotz auch heuer zum Nachdenken über die Zukunft der Ozeane ein.

Gondoliere Andrea Rizzo wünscht sich ein nachhaltiges Umdenken
Gondoliere Andrea Rizzo wünscht sich ein nachhaltiges Umdenken © Regina Rauch-Krainer

Schnell wird klar, die Venezianer lassen sich vom Fluch der Epidemie nicht unterkriegen. Zwar haben die Gondolieri, die Protagonisten auf der Wasserbühne des venezianischen Theaters, trotz gesenkter Preise ganz schön zu leiden. Andrea Rizzo, einer der insgesamt 433 Gondelkapitäne, sieht aber auch die Chance zu nachhaltigem Umdenken: „Rund 80 Prozent Umsatzrückgang sprechen für sich. Ich arbeite an nur neun Tagen im Monat und teile mir so den mageren Kuchen mit meinen Kollegen. Überleben können wir damit auf Dauer ganz sicher nicht“, erzählt er.

„Aber ehrlich gesagt machten uns die Massen trotz guten Geldes auch ganz schön zu schaffen. Venedig hatte es zu weit getrieben. Der Moment der Reflexion ist gekommen. Mein Traum wäre: zurück zu einem Venedig wie zu Zeiten der Renaissance.“ Andrea will seine heiß begehrte Gondellizenz auf keinen Fall verlieren. Er ist zuversichtlich, für die restlichen Tage des Monats eine andere Arbeit zu finden, am besten in einer der großen außertouristischen Domänen der Lagunenstadt: der Handwerkskunst oder der Fischerei.

Ansätze des nachhaltigen Wandels werden auch andernorts sichtbar. Vorerst wird es keine Kreuzfahrtschiffe in Venedig geben: zur Freud der Einheimischen, vieler Gäste und aller für einen sanften Tourismus Kämpfenden, aber zum Leid der Hafenarbeiter. So tuckern unzählige Schiffe bei einer Demonstration gegen die Verbannung der Ozeanriesen mit lautem Sirenengeheul durch den Giudecca-Kanal. „Ich habe zwei kleine Kinder und wie 4000 andere Familien die Existenzgrundlage verloren“, sagt Maurizio, einer der Hafenarbeiter, verzweifelt.

Hafenarbeiter Maurizio bei der Demo pro Kreuzfahrttourismus
Hafenarbeiter Maurizio bei der Demo pro Kreuzfahrttourismus © Regina Rauch-Krainer

Im heute so beschaulichen Venedig gibt es vor und hinter den Kulissen vieles zu bewältigen. Bürgermeister Luigi Brugnaro steht kurz vor den Wahlen im September. Er strahlt Optimismus aus. „Die Harry’s Bar meines Freundes Arrigo Cipriani öffnet nach Monaten wieder ihre Pforten. Voller Mut und Vertrauen!“, lautet eine seiner neuesten Facebook-Botschaften.

Der Drink in der vielleicht legendärsten Bar der Welt mag einer der Gründe sein, Venedig die Treue zu halten. Aber es gibt noch Tausende weitere. Die Serenissima braucht uns in diesen Tagen, um sich über Wasser zu halten.

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