Bei vielen Pilgern gibt es unumstößliche Sicherheiten, die zu zerstören auch einem Reiseleiter manchmal schwerfällt. Eine davon lautet: Die Via Dolorosa, der Kreuzweg, der mitten durch die Altstadt von Jerusalem führt, sei historisch gesichert. Denn trotz aller archäologischen und historischen Forschungen ist bis heute nicht klar, wo Pontius Pilatus den Prozess gegen Jesus abhielt. Sein Amtssitz war in Caesarea Maritima, jener Stadt, die Herodes der Große (73–4 v. Chr.) als „Fenster gegen den Westen“ mit allen Annehmlichkeiten hatte errichten lassen. Wenn es aber in Jerusalem politisch unruhig zu werden drohte, dann zog der Statthalter Roms mit seinen Hilfstruppen dorthin. Und das war zu Pessach der Fall, jenem Fest, bei dem Israel der Befreiung aus der ägyptischen Gefangenschaft gedachte. Ein Freiheitsfest also, das die Juden auch 1300 Jahre nach dem es begründenden historischen Ereignis erneut zu einem Aufstand hätten nutzen können.


Lange Zeit hielt man an der Festung Antonia im Nordwesteck des Tempels als dem Ort der Verurteilung Jesu fest. Neuere Theorien gehen davon aus, dass Pilatus aber im herodianischen Palast neben dem heutigen Jaffa-Tor Gericht gehalten hat. Beide Orte haben Argumente für sich. Emotionell ist der Antonia-Theorie der Vorzug zu geben, denn ganz in der Nähe befindet sich der Konvent der Zions-Schwestern, in dessen Bereich der „Ecce homo“-Bogen liegt.


Das Johannesevangelium (19,4 f.) beschreibt den Prozess mit einem Unterton, als hätte der Römer Mitleid mit dem Angeklagten gehabt und sogar daran gedacht, ihn freizulassen: „Seht, ich bringe ihn zu euch heraus; ihr sollt wissen, dass ich keine Schuld an ihm finde. Jesus kam heraus; er trug die Dornenkrone und den purpurroten Mantel. Pilatus sagte zu ihnen: Ecce homo. (Seht, der Mensch!) Als die Hohepriester und die Diener ihn sahen, schrien sie: Kreuzige ihn, kreuzige ihn!“ Pilatus hätte es in der Hand gehabt, Jesus freizulassen. Freilich: Auf die Frage, ob er ein König sei, antwortete Jesus: „Du sagst es, ich bin ein König.“

Der letzte König war Herodes


Diese Selbstzuschreibung konnte der Römer nicht hinnehmen. Der letzte König, der das biblische Land regiert hatte, war von Roms Gnaden Herodes gewesen. Auch keinem seiner Söhne wurde die Königswürde zuteil. Wenn Jesus nun diese für sich in Anspruch nahm, auch wenn er einschränkend gesagt hatte, dass sein Königreich nicht von dieser Welt sei, dann musste Pilatus reagieren und ihn mit dem Tod bestrafen.


Der „Ecce homo“-Bogen ist der mittlere und höchste von drei Bögen und überspannt die Via Dolorosa. Einer ist in ein Privathaus integriert, der dritte bildet einen Teil der „Ecce homo“-Kirche der Zions-Schwestern. An ihn schließt sich ein weitläufiges Pflaster aus mächtigen Steinplatten an. Einige von ihnen sind mit Einritzungen versehen, die uns an das heute noch bekannte Mühle-Spiel erinnern. Den Soldaten wird eben auch oft langweilig gewesen sein, und so versuchten sie spielerisch, sich die Zeit der Wache zu vertreiben. Dieses Steinpflaster wurde um 1860 entdeckt. In ihrem Wunschdenken, genau das gefunden zu haben, was sie gesucht hatten, nämlich den Ort der Verurteilung Jesu, setzten die Archäologen das Pflaster mit dem biblischen Ort, der Lithostrotos heißt, gleich. In den letzten Jahrzehnten setzte sich allerdings nach genaueren Überprüfungen die Erkenntnis durch, dass die gesamte Anlage erst aus der Zeit von Kaiser Hadrian, hundert Jahre nach dem Tod Jesu, stammt. Wenn man den Ausgangspunkt des Leidensweges nicht mit Sicherheit bestimmen kann, wohl aber dessen Endpunkt, die Grabeskirche, dann ist es auch nicht möglich, eine verlässliche Verbindung herzustellen.


Die Via Dolorosa ist zwar historisch nicht gesichert, eine heilige Straße ist sie dennoch. Denn zumindest seit der Kreuzfahrerzeit haben Abertausende Pilger diesen Weg durch ihr Gebet geheiligt. Der endgültige Verlauf und die Anzahl der 14 Stationen wurden erst von dem deutschen Franziskanermönch Elzear Horn, der sich um 1730 in Jerusalem aufgehalten hat, festgelegt.


Es ist also ein europäischer Import von Frömmigkeit, der sich an diesem Weg findet, und dies gilt für etliche Stationen, etwa für die dritte, die siebente und die neunte, an denen daran erinnert wird, dass Jesus unter der Last des Kreuzes zusammengebrochen sei. Die drei Stürze Jesu werden in keinem der Evangelien erwähnt, wie überhaupt der Kreuzweg von keinem der Evangelisten näher beschrieben wird. Auch die sechste Station, an der man gedenkt, dass Veronika Jesus das Schweißtuch gereicht habe, wird im Neuen Testament nicht beschrieben. Vielmehr dürfte sich dies aus der späteren Verehrung von Jesus-Ikonen erklären. Ikonen-Maler nehmen für sich in Anspruch, das jeweils „wahre Abbild Jesu“ zu zeigen, das seinen Ursprung im Namen Veronika hat. Dieser setzt sich aus dem Lateinischen „Vera“ und dem Griechischen „Eikon“ zusammen: das „wahre Bild“.


Wenn eine Gruppe zu lange am Anfang des Schmerzensweges verweilt, dann wittert Yousef, ein arabisch-muslimischer Händler nahe der zweiten Kreuzwegstation, ein Geschäft. Er bietet religionsübergreifend Devotionalien feil: den muslimischen Felsendom neben einem Jesuskind in der Krippe, Wandteppiche mit der Kaaba und Dornenkronen, aber auch geschmacklose Vexierbilder, die den Gekreuzigten zeigen. Wenn man das Bild bewegt, dann schlägt Jesus einmal seine Augen auf und schließt sie danach wieder schmerzverzerrt. Religiöse Geschmacklosigkeit kennt keine Grenzen, schon gar nicht in Jerusalem. „Deutsch?“, fragt Yousef einen Reiseteilnehmer, um dessen Nicken mit den Worten „Nix gut“ zu kommentieren. Das bezieht er freilich nicht generell auf deutsche oder österreichische Besucher, sondern nur auf deren Weigerung, bei ihm um 40 Dollar ein lebensgroßes Kreuz zu mieten, mit dem die Gruppe durch die Via Dolorosa ziehen kann. An der Grabeskirche wird es dann abgestellt, Yousef holt es später mit einem Kleintraktor wieder ab. Die Italiener und Spanier, die Südamerikaner und auch die Filipinos seien ganz wild darauf, erklärt er, nicht aber die Deutschen.

Lesen Sie morgen: Die Grabeskirche – der Wunsch, dem Heiligen nahe zu sein

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