Tatort Gesundheitssytem: Ist glücklich alt zu werden in unserem Gesundheitssystem eine Glückssache? 

RUDOLF LIKAR: Ich glaube, wir haben eine große Schwäche: Wir arbeiten diagnosenbezogen und nicht präventiv, weil es nur für für Diagnosen Geld für Spitäler und Ärzte gibt. Das ist ein krankes System, im Endeffekt macht unser System krank, und wenn es uns krank macht, kann ich auch nicht glücklich alt werden. Wir reden auch über Krankenhausüberlastung, aber nicht über Eigenverantwortung des Einzelnen. Und wir müssen einmal darüber reden, wie wir die Menschen behandeln. Ein Hausarzt bekommt für seine Leistung nur dann eine entsprechende Gage, wenn er möglichst viele Leistungen abrechnet. Aber er bekommt keinen Cent für das Reden und Coachen. Viel verdienen etwa die Gastroenterologen, die in den Körper reinschauen – wenn sie keine Gastro- oder Koloskopien machen, dann haben sie weniger Verdienst. So hat das System keine Zukunft mehr, gerade der Arzt muss den gesamten Menschen anschauen, nicht nur Teile.
SILVIA TÜRK: Es geht um die großen gesellschaftlichen Zusammenhänge, um den Stil, wie wir alt werden wollen. Da ist nicht alleine das System zuständig, da ist eine Eigenleistung gefragt. Wir sind in einer Gesellschaft, in der wir uns vieles leisten können. Ich sehe drei Schwachpunkte: zu wenig Gesundheitsbildung, zu wenig Gesundheitsprävention, zu wenig Klimaschutz, was wiederum unserer Gesundheit schadet. Ändern können wir das nur mit: Bildung, Bildung und noch einmal Bildung. Weil am meisten tun kann ich immer noch für mich selbst. Ich mag das Wort Reparaturmedizin zwar nicht, aber es ist das, was von der Medizin gemacht werden muss. Das betrifft ein Drittel unserer Gesundheit. Aber für die anderen zwei Drittel ist der Patient verantwortlich, er muss etwas für sich tun.
RUDOLF LIKAR: Es gibt ja auch Wissenschaftler, die sagen, Alter sei eine Krankheit. Was soll das? Wir altern ja auch, wenn wir keine Falten haben. Wenn ich nach der x-ten kosmetischen Operation keine Falten mehr habe, dann habe ich halt alte Knochen. Wir sind auf außen fixiert, und in die Tiefe gehen wir immer weniger. Gesundheit ist körperliches, psychisches und soziales Wohlbefinden. Aber unsere Gesellschaft geht auf den Körper, auf das Gesicht – unser soziales Leben, unsere Psyche beachten wir zu wenig. Ärzte betrachten oft nur einen Teil des Menschen und seiner Probleme, das müssen wir schon im Studium ändern. Nur Richtung Spezialisierung zu gehen ist der falsche Weg. Wir brauchen genauso Generalisten.

Silvia Türk ist Ärztin und arbeitet im Gesundheitsministerium. Sie gilt als profunde Kennerin des System u.a. mit den Schwerpunkten Qualität und Gesundheitssystemforschung
Silvia Türk ist Ärztin und arbeitet im Gesundheitsministerium. Sie gilt als profunde Kennerin des System u.a. mit den Schwerpunkten Qualität und Gesundheitssystemforschung © (c) Blue Planet Studio - stock.adobe

Man weiß mehr über eine gesunde Lebensführung als je zuvor: vom Wunder Be­wegung bis zur Ernährung und Vorsorgemedizin – aber manchmal hat es den An­schein, als gingen die Öster­reicher lieber auf Kur statt auf gesunde Lebensführung und Vorsorge zu setzen.

LIKAR: Die Kuren sind obsolet, die Kur ist maximal für den Kurschatten, und der tut auch nicht immer gut. Es gehören g’scheite Rehabilitationskonzepte her. Die meisten Anstalten schwenken ohnehin um, machen organspezifische Rehabkonzepte. Ich glaube, wir sind auf einem guten Weg, die Kur im alten Sinne ist out.
TÜRK: Ich glaube, dass man da auf das falsche Pferd setzt: Drei Wochen ein paar Parameter zu ändern bedeutet keine Umstellung des Lebensstils. Dafür bedarf es mehr. Präventiv sollte man täglich daran arbeiten und vielleicht auch Anreize im Krankenkassensystem für ein gesünderes Leben setzen. Aber immer mit Umsicht, damit alle Menschen auf diesem Weg mitgenommen werden. Sonst wird keine Lösung funktionieren, man braucht viel Verständnis für die Situation der Menschen.

Nicht out ist das Konzept Pflegeheim für alte Men­schen. Sind sie alt und ge­brechlich, werden sie oft abgeschoben – das hat mit einem glücklichen Altern oft wenig zu tun.

LIKAR: Wir haben ja nie gefragt, wo die alten Menschen leben wollen, und bringen sie trotzdem in Heime. Und das ist komplett falsch. Weil in den Pflegeheimen werden viele Menschen sozial isoliert. Und dann kommen Themen wie der assistierte Suizid auf, weil die Menschen vereinsamen und die Würde verlieren. Ziel ist es, alternative Wohnprojekte wie Mehrgenerationenhäuser zu bauen, wo Menschen je nach den Bedürfnissen adäquate Hilfe bekommen und sozial vernetzt sind. Wichtig ist es, dass wir entsprechende Versorgungsnetze in der Gesellschaft aufbauen, um den Menschen, die Sorgen haben, die Hand zu reichen.
TÜRK: Ich bin ja schon an der Schwelle zum Altwerden. Was Likar sagt, stimmt – wenn ich sehe, wie die Menschen kämpfen, um nicht in ein Heim gehen zu müssen. Man muss, um gesund und glücklich alt zu werden, auch ein Umfeld haben, wo man bis zu einem gewissen Grad selbstbestimmt leben kann. Ich träume von einer Wohngemeinschaft, man versorgt sich selbst, den Rest übernimmt zum Beispiel eine Gemeindeschwester. Wie wollen wir im Alter leben? Darüber haben wir uns im Gesundheitssystem bisher zu wenig Gedanken gemacht. Stattdessen sind Wirtschaftszweige für Teilbereiche entstanden. Überspitzt formuliert: Ich brauche kein Fango am Rücken, ich brauche einen, der Ball spielt mit mir, der mit mir redet, der mich umarmt. Alte Leute, die alleine leben, werden ja gar nicht mehr liebevoll berührt. Dafür kann man nicht das Gesundheitssystem verantwortlich machen. Schauen Sie einmal, wie gut in Italien mit alten Menschen umgegangen wird. Sie gehören zum Leben und werden nicht abgeschoben.

Kann man das Gesund­heitssystem heute über­haupt noch entscheidend verändern, damit es uns besser beim Älterwerden helfen kann? Oder gibt es keine Chance mehr?

LIKAR: Aber wenn wir sagen, es ist nicht umkehrbar, dann muss ich auch lösungsorientiert denken, um etwas zu ändern. Viele der jungen Mediziner denken ausschließlich parameterbezogen. Ich habe immer wieder Fälle, in denen mir junge Mediziner sagen, der eine, der einzelne Wert ist schlecht, und daraus Schlüsse ziehen. Aber sie schauen nicht auf den ganzen Menschen, der alt und gebrechlich ist und mehrere Krankheiten hat. Wenn man das nicht als Ganzes erfasst, kommt man nicht weiter. Du musst die Krankheit in die Mitte deiner Bemühungen setzen, und wir Ärzte sitzen mit Patienten um diese Krankheit herum. Jeder macht seinen Teil und wir versuchen gemeinsam das Beste daraus zu machen.

© (c) Markus Traussnig (Markus Traussnig)

Das größte Problem in der Betreuung kranker und alter Menschen scheint der­zeit die Pflege zu sein: Die­ser Missstand wurde von den politisch Verantwortli­chen und von den Kliniken selbst jahrelang nicht aus­ reichend beachtet – jetzt, auch durch Corona, be­kommt man die Rechnung präsentiert. Was ist da schiefgelaufen?

TÜRK: Die Akademisierung der Pflege – in Sachen Ausbildung – war meines Erachtens nicht zielführend. Wir haben viele Häuptlinge, aber keine Indianer mehr, auch wieder bewusst provokant formuliert. Wir haben mit der Ausbildung jenen die Freude genommen, die einfach nur am und mit Menschen arbeiten wollten. Die Pflege wurde veradministriert.
LIKAR: Dabei bräuchten wir dringend eine Pflege, die den Patienten die Hand hält, die Patienten wäscht, die Patienten betreut – und das gerne macht. Natürlich haben wir einen Pflegemangel, die Achillesferse bei der Corona-Pandemie ist die Pflege. Wir haben viel zu lange nichts dagegen getan. Man muss der Pflege wieder eine höhere Wertigkeit geben, man wird auf andere Kontinente schauen müssen und von dort Pflegekräfte holen.
TÜRK: Man muss einen Unterschied zwischen Pflegewissenschaft und Pflege definieren, und Maßnahmen müssen sofort gesetzt werden. Im Gesundheits- und Krankenpflegegesetz steht, dass die neue Ausbildung bis 2023 evaluiert wird. Aber das dauert für den Mangel, den wir jetzt schon haben, zu lange. Darauf muss die Politik achten.

Was braucht unser Gesundheitssystem derzeit am dringendsten - auch in Bezug auf die Corona-Pandemie und deren Folgen?

TÜRK: So, wie die Stimmung derzeit ist, braucht es Ruhe und Besonnenheit und eine große Portion Pragmatismus um durch diese doch schon lange dauernde Pandemie zu führen. Die Pandemie wird nicht von heute auf morgen aufhören. Die größte Belastung trägt das Personal des Gesundheitswesens, für diese Menschen braucht es eine besondere Wertschätzung. Gerade in Zeiten, in denen ein Riss durch die Gesellschaft entsteht, müssen wir dagegenhalten, Menschen wieder zusammenbringen – auch das ist für unser aller weiteres Leben, für ein gesundes Altern wichtig. Was sollen wir machen, wenn die Spitäler noch mehr Pflegekräfte verlieren, weil diese die Belastung nicht mehr aushalten? Da muss man gegensteuern und zusammenhalten.

Müssen wir uns mit der Impfpflicht abfinden?
LIKAR: Es gibt nur zwei Auswege aus der Pandemie: die Impfung oder die Erkrankung. Man kann sich aussuchen, welcher Weg weniger Nebenwirkungen mit sich bringt. Eine Strafe ist eine einmalige Pönale. Wer seine Tests selber zahlen muss, hat eine Dauerpönale – und eine dauerhafte Erinnerung, dass man einen Solidarbeitrag zahlt. Ich würde es für den besseren Weg halten, dass Menschen, die sich nicht impfen lassen, dauernd testen müssen. Damit haben wir eine gewisse Sicherheit, die wir bei einer normalen, einfachen Bestrafung nicht haben.

Wie würden Sie Ihre per­sönlichen Vorschläge für ein gesundes und glückli­ches Altern umreißen?

TÜRK: Ich habe mich persönlich sehr intensiv damit auseinandergesetzt: Was will ich, wo stehe ich, und bin ich eigentlich glücklich? Habe ich mich rechtzeitig darum gekümmert, dass ich Alternativen habe, wenn ich in Pension gehe und das Telefon plötzlich stillsteht? Was fange ich mit mir selbst an? Das alles muss man sich beantworten können. Sonst falle ich in eine Altersdepression. Mein Rezept: Bewegung, Bewegung, Bewegung - geistig wie körperlich. 
LIKAR: Ich würde meine vierfache L-Therapie vorschlagen: Laufen, Lachen, Liebe und lebenslanges Lernen. Der Körper muss fit bleiben, und wenn man im Kopf fit bleibt, kommt der Körper mit. Glück ist, wenn beides vorhanden ist. Eine lebenslange Reflexion braucht man genauso. Ich fahre jedes Jahr zum Berg Athos, wo ich meine Energie herhole, jeder braucht Energie.