Würde Goethe erst 2021 die Feder schwingen und seinem Werk Faust den letzten Schliff verleihen, würde die Angebetete des Titelhelden wohl nicht nach dessen Verhältnis zur Religion fragen. Denn die Gretchenfrage dieses Jahres müsste unweigerlich lauten: „Wie hast du’s mit der Impfung?“ Seit um Weihnachten die ersten Stiche im Kampf gegen das Coronavirus gesetzt wurden, kommt kaum ein Gespräch ohne dieses Thema aus. Ob in Stammtisch-Manier bei ein, zwei Gläschen oder feierabends in den sozialen Netzwerken: Überall wird über die Sinnhaftigkeit der Vakzine diskutiert und gestritten. Und die Gräben könnten tiefer nicht sein: Kaum jemand scheint eine neutrale Stellung zu diesem Thema zu haben. Die Covid-Impfung wird entweder zur zielführenden Lösung der Krise erhoben oder als Gift verteufelt.

Schon immer ein streitbares Thema 

Doch dass Impffragen zu Streitfragen werden, ist keineswegs ein Phänomen, das durch die Coronapandemie entstanden ist. Schon vor rund 200 Jahren, als die Impfung noch in den Kinderschuhen steckte, liefen Impfgegner dagegen Sturm. Damals wurde den Pocken mit einer neuartigen Technik – der Variolation – der Kampf angesagt. Die Methode wird heute als Vorstufe zu Impfungen im eigentlichen Sinn angesehen. Bei dieser, heute nicht mehr denkbaren Technik, wurden Kühe in Seitenlage auf ein Gestell geschnallt. An ihren rasierten Bäuchen brachte man den Wirkstoff ein, damit sich dieser dort vermehrt. Dann wurde er ungeprüft an die Patientinnen und Patienten weitergeben.

Diese Methode rief die ersten Impfgegner der Geschichte auf den Plan. Grafiken wurden angefertigt, die Menschen mit Kuhköpfen zeigten – eine Nebenwirkung, die man aufgrund der Methodik befürchtete. Auch kluge Köpfe wie Immanuel Kant äußerten sich kritisch: Er warnte davor, dass mit den Kuhpocken auch die „tierische Brutalität“ in den Menschen eingeimpft würde.

Erste Vereine gegen den Impfzwang

Im Königreich Bayern wird 1807 als Reaktion auf die grassierende Pockenepidemie schließlich eine Impfpflicht ausgerufen. Gegen den Zwang formiert sich schnell Widerstand. Es bilden sich lokale „Impfzwanggegner-Vereine“ und ab 1876 erschien das Periodikum „Der Impfgegner“. Auch die folgenden Jahrzehnte blieben ein Wechselspiel aus neuen medizinisch-technischen Errungenschaften und Menschen, die dagegen Sturm liefen. Doch auch, wenn Impfstoffe von Anfang an viel Gegenwind erhielten, zeigt ein Blick auf die Menschheitsgeschichte: Vakzine haben immer wieder dazu geführt, Seuchen einzudämmen oder Krankheiten auszurotten.

Anfang des 20. Jahrhunderts kamen die ersten Impfstoffe auf, die bis heute verwendet werden. So wie jene gegen Tetanus und Diphtherie. Man erkannte, dass Toxine für den Ausbruch dieser Krankheiten verantwortlich waren. Diese isolierte man, um Vakzine herzustellen.

Komplexe Themen, einfache Erklärungen 

Einige Jahrzehnte und viele technische und medizinische Entwicklungen später, steht die Impfung immer noch in der Kritik. Aber was führt dazu, dass gerade dieses Arzneimittel ständig ein streitbares Thema ist? Auch Impfexperte Herwig Kollaritsch hat sich mit dieser Frage beschäftigt und erklärt Fake News rund um Impfungen mit einem Zitat der Politologen Peter Filzmaier, der sagte: „Wenn eine Person eine Sachlage nicht genau versteht, weil diese sehr komplex ist, dann ist derjenige geneigt, Menschen zu folgen, die einfache Erklärungen anbieten.“ Wer diese Personen sind und woher sie ihre Informationen beziehen wird dabei oft außer Acht gelassen.

„Gerade auf die Impfung trifft das zu. Denn dabei handelt es sich um einen hoch komplexen Vorgang. Daher haben in der Geschichte auch immer wieder gebildete Köpfe Impfungen verteufelt. So hat auch Mahatma Gandhi die Impfung als Barbarei bezeichnet“, sagt der Impfexperte. Stoff für Verschwörungstheorien gibt es also immer wieder genug. Dass Menschen ihnen gerade in Bezug auf Vakzine immer wieder verfallen, hat einen einfachen Grund, wie Internistin Sabine Horn erklärt: „Bei einer Impfung handelt es sich um einen Eingriff in einen gesunden Körper. Das ist für den Menschen etwas ganz anderes als eine Intervention bei einer Krankheit – es befeuert Urängste. Ist eine Meinung dadurch dann so stark emotionalisiert, ist es schwer, mit Daten und Fakten zu überzeugen.“

"So effektiv wie sauberes Trinkwasser"

Daten und Fakten würden jedenfalls klar zeigen, dass die Impfung die Geschichte der Menschheit und der Krankheiten stark verändert hat. „Heute haben wir die Möglichkeit zu beweisen, dass der Nutzen zugelassener Vakzine eindeutig größer ist als das Risiko“, sagt Kollaritsch. Zahlen, die Bände sprechen, gibt es unter anderem von Virologe G. J. Nabel, der 2013 die Todesfälle durch Infektionskrankheiten vor und nach der großflächigen Impfära ab dem Jahr 2000 verglich. So gab es vorher, also im 20. Jahrhundert, 1,63 Millionen Tote durch Poliomyelitis (Kinderlähmung) und nach 2002 keinen einzigen Todesfall mehr. Bei Masern stehen 5,03 Millionen Verstorbene 36 Fällen nach dem Jahr 2002 gegenüber. „Keine andere Methode in der Medizin hat so viel Nutzen gebracht – außer sauberes Trinkwasser“, so der Experte.

Das hat auch damit zu tun, dass die Impfung sich in den letzten 200 Jahren stetig weiterentwickelt hat und mittlerweile ein sicheres Verfahren ist. „Heute müssen Herstellung und Anwendung der Vakzine standardisierten Leitlinien folgen. Bevor eine Prüfung von Arzneimitteln überhaupt möglich ist, müssen internationale ethische und wissenschaftliche Standards bezüglich Planung, Durchführung und Dokumentation erfüllt werden. Damit ist die Impfung eine der sichersten medizinischen Verfahren, die wir kennen“, so Kollaritsch.

Das Heranzüchten von Arzneimitteln an Kuhbäuchen wäre damit wohl nicht mehr möglich.

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