Waren seltene genetische Muskelkrankheit noch vor wenigen Jahren ein Todesurteil für betroffene Kinder, stehen nun hochwirksame Therapien zur Verfügung. Aber: Ein Neugeborenen-Screening, durch das Betroffene frühzeitig eine Diagnose bekommen, gibt es in Österreich weiterhin nicht, wie Ärzte kritisieren. 

Einer von 7.000 Säuglingen hat in Österreich die genetische Veranlagung für eine Spinale Muskelatrophie (SMA). Bei Vorliegen einer Verlaufsform vom Typ1, woran zwei Drittel der betroffenen Babys leiden, kann die Krankheit binnen zwei Jahren zu 90 Prozent mit dem Tod enden oder die Notwendigkeit ständiger künstlicher Beatmung bedeuten. Doch in den vergangenen Jahren wurden - erstmals - effektive Therapien etabliert.

Seit 2020 gibt es eine SMA-Gentherapie. Drei Jahre vorher wurde auch in Europa eine erste medikamentöse Behandlung zugelassen. Wolfgang Müller-Felber, Ärztlicher Leiter des Motorik- und Metabolik-Hauses am Klinikum der Universität München: "Wenn man eine SMA-Behandlung erst beim Vorliegen von Symptomen beginnt, ist das viel schlechter als vor dem Auftreten von Symptomen."

Nur ein Bluttropfen notwendig

Einmal aufgetretene Schäden sind nicht mehr heilbar. Deshalb muss der Hinweis auf ein mögliches Vorliegen der Erkrankung möglichst früh nach der Geburt erfolgen, um nicht mehr reparable Schädigungen zu verhindern. Deshalb wäre ein Neugeborenen-Screening auf einen SMA-Verdacht über die Analyse eines Blutstropfens extrem wichtig. Dies könnte in das seit Jahrzehnten in Österreich etablierte Neugeborenen-Screening vor allem auf seltene Stoffwechselerkrankungen prinzipiell leicht eingebaut werden.

In Deutschland hat man sich nach Pilotversuchen in zwei Bundesländern Ende 2020 zum flächendeckenden SMA-Screening bei Säuglingen entschlossen. "Wir haben 2018 mit dem Screening in den Pilot-Studien begonnen und haben knapp 500.000 Neugeborene untersucht. Wir konnten 60 betroffene Kinder identifizieren. Jene, die zu einem asymptomatischen Zeitpunkt gefunden und behandelt wurden, haben bisher einen nahezu asymptomatischen Verlauf", sagte der deutsche Experte.

Gen-Therapie: Neues Zeitalter angebrochen

Während sich in der jüngeren Vergangenheit laut Wolfgang Löscher, Spezialist für Neuromuskuläre Erkrankungen an der Universitätsklinik Innsbruck, herausgestellt hat, dass die vorhandene medikamentöse Therapie bei SMA auch noch bei Erwachsenen mit langsamerem Krankheitsverlauf wirkt, stellt die vergangenes Jahr eingeführte Gentherapie einen völlig neuen Schritt dar. Man sei in einer Situation, in der man bei den behandelten Säuglingen mit dem "bloßen Auge" beobachten könne, wie viel besser sie sich entwickelten, betonte Neuropädiater Günther Bernert (Klinik Favoriten/Wien).

Doch es fehle eben weiterhin das Neugeborenen-Screening in Österreich. "Es bedarf dazu einer Gesetzesänderung. Und da braucht es jemand, der dahinter ist, dass das passiert", sagte Bernert. Die Crux: Laut Juristen spricht das österreichische Gentechnikgesetz derzeit gegen solche Untersuchungen auf SMA-Verdachtsmomente, was jedoch nicht ganz unumstritten ist. Aber, so der Wiener Experte, offenbar sei das österreichische Gesundheitsministerium derzeit mit Corona so beschäftigt, dass dieses Projekt nicht vorankomme, obwohl man sofort starten könnte. Die Tragik: Somit dürften in Österreich weiterhin Neugeborene mit Spinaler Muskeldystrophie erst zu spät zu einer Diagnose für einen optimalen Therapieerfolg kommen.

Therapie-Kosten: Fast 2 Millionen Euro

In jüngster Vergangenheit konnte in Österreich auch erstmals ein System zur Finanzierung der Therapien inklusive der potenziell heilenden Gentherapie (Kosten: 1,945 Millionen Euro) erzielt werden. Das erscheint aber zumindest teilweise sinnlos, wenn man die Diagnostik hinauszögert. Zu den hohen Aufwendungen sagte Bernert: "Die hohen Kosten muss man über den gesamten Verlauf einer chronischen Erkrankung sehen."

Derzeit entwickelt sich das Spektrum der Therapiemöglichkeiten auf diesem Gebiet sehr schnell: Schon in nächster Zeit dürfte ein zweites Medikament bei der Behandlung der SMA zugelassen werden, das nicht mehr injiziert, sondern geschluckt wird. Bei der häufigsten genetisch bedingten neuromuskulären Erkrankung, der Duchenne Muskeldystrophie, könnte in absehbarer Zeit ebenfalls eine Gentherapie zur Verfügung stehen. Alle diese Leiden gehören zu den sogenannten Seltenen Erkrankungen. Etwa sieben Prozent der Bevölkerung leiden an einer der rund 7.000 verschiedenen Krankheiten, die in diese Kategorie fallen.

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