Die Tür fliegt auf und Raffael wird von seinem Papa Robert Rötzer in seinem kleinen Rollstuhl in das Café im Grazer Univiertel geschoben, das der Familie gehört. Im Gesicht hat er schwarze Flecken, auch die Nase und die Augenbrauen sind schwarz bemalt. „Ich bin ein Dalmatiner“, erklärt Raffael den Gästen und macht ein knurrendes Geräusch – ganz in seiner Rolle als Hund. Wenig später setzt ihn sein Papa auf den Tresen, wo Raffael mithilft, einen Cappuccino für die Besucher zu machen. Währenddessen kommt seine Schwester Mirabell zur Tür hereingelaufen. Als die Familie sich für das Interview an den Kaffeetisch setzt, wird Raffaels Rollstuhl eingeparkt, Mirabell klettert auf den Schoß ihrer Mama. Raffael, dreieinhalb Jahre alt, und Mirabell, zwei Jahre alt, sind Geschwister und sie tragen die gleiche Erbkrankheit in sich – und doch ist Mirabell ein gesundes Kind, während Raffael keinen Tag ohne fremde Hilfe schafft.


25 Prozent. So groß ist die Chance, dass Martina und Robert Rötzer ihren Kindern die schwere Muskelkrankheit spinale Muskelatrophie Typ 1, kurz SMA 1, vererben – sie sind beide Anlagenträger, aber selbst nicht betroffen. Dass sich das Leben nicht an Statistiken hält, zeigt ihre Familienaufstellung: Da ist Raffael, der erste Sohn. Er bekam seine Diagnose im Alter von zehn Monaten. Da Raffael ein Frühchen war, hörten seine Eltern lange Zeit den Satz: „Das wird schon“, wenn sie sich bei Ärzten erkundigten, warum ihr Sohn sich kaum bewegte, nicht sitzen, nicht krabbeln wollte. Als die Diagnose mit zehn Monaten feststand, setzte auch die Therapie mit dem damals neuartigen Medikament Spinraza ein. Zu spät für viele muskulären Fähigkeiten: Raffael kann nicht gehen, er kann nur sitzen, wenn er von jemand anderem aufgerichtet wird. Doch dass Raffael sitzen und seinen Kopf halten kann, ist für die Eltern schon ein Meilenstein. Denn als die Eltern die Diagnose hörten, wurde ihnen auch gesagt: Kinder mit dieser Erkrankung überleben das zweite Lebensjahr meist nicht.

Dann ist da Schwester Mirabell, deren Namen die Eltern ausgesucht haben, da er das schöne Wunder bedeutet – und ein Wunder ist Mirabell in gleich mehrfacher Hinsicht. Mama Martina Rötzer wusste schon seit jungen Jahren, dass sie auf natürlichem Weg kein Kind bekommen würde. Bis sie mit Raffael schwanger war, waren neun Versuche mit künstlicher Befruchtung notwendig. Doch als man von Raffaels Diagnose erfuhr, war Rötzer wieder schwanger – es war auf natürlichem Weg passiert, doch nun mussten sich die werdenden Eltern der Frage stellen: Ist unser zweites Kind auch so krank? Die Antwort lieferte eine Blutuntersuchung unmittelbar nach Mirabells Geburt: Ja, die kleine Schwester hat dieselbe Muskelkrankheit. Doch anders als bei Raffael begann die Therapie für seine Schwester schon im Alter von vier Wochen – die Unterschiede zwischen den Geschwistern sind frappierend.
Mirabell läuft durch das Lokal zur Tür, um ihre Großeltern zu begrüßen. „Bis jetzt hat Mirabell noch keine Symptome“, sagt Papa Robert Rötzer. „Das ist ein Wunder.“ Und Mama Martina fügt hinzu: „Unsere Kinder sind das Beispiel dafür, was möglich ist, wenn Kinder rechtzeitig diagnostiziert und behandelt werden.“

Drei Mal pro Jahr bekommen Raffael und Mirabell das Medikament Spinraza mittels Injektion in den Rückenmarkskanal gespritzt. Dafür sind jedes Mal eine Narkose und ein Aufenthalt im Krankenhaus notwendig. Dass Medikament war, als es 2017 auf den Markt kam, eine Revolution: Es gab plötzlich eine Therapie für Kinder, die sonst innerhalb der ersten beiden Lebensjahre verstorben sind. Raffael war einer der Ersten in Österreich, die die Therapie erhalten haben. Doch das Medikament ist teuer, pro Spritze kostet die Behandlung 80.000 Euro. „Wir haben Glück, dass wir in Österreich leben und Zugang zu Medikamenten und Unterstützung haben“, sagt Vater Robert Rötzer. Gleichzeitig kritisiert er aber auch, dass es keine einheitliche Stelle gibt, die auf Augenhöhe mit den Pharmafirmen verhandeln kann. Und dass es für schwerkranke Kinder von ihrem Geburtsort abhängen kann, ob sie eine lebensnotwendige Therapie bekommen oder nicht.


Jede Erkältung, jeder virale Infekt kann für Raffael den Weg in die Intensivstation bedeuten. „Die Wahrscheinlichkeit, dass er sterben könnte, ist da“, sagt Vater Robert. Raffael hat eine Husten- und eine Beatmungsmaschine zu Hause. Er braucht den ganzen Tag Betreuung, mindestens einen Erwachsenen, der ihm hilft – sei es der Gang auf die Toilette oder die verschlossene Tür, die zum unüberwindbaren Hindernis wird. Gleichzeitig darf Raffael eine normale Kindheit haben – er geht in den Kindergarten und wenn ihn andere Kinder fragen, warum er im Rollstuhl sitzt, sagt er: „Meine Muskeln sind zu schwach.“ Und seit er andere Kinder mit der gleichen Erkrankung getroffen hat, die ebenfalls im Rollstuhl sitzen, weiß er: Er ist nicht der Einzige. „Raffael ist so ein cooles Kind“, sagt sein stolzer Papa. „Er ist ein Sonnenschein“, sagt Mama Martina. „Wir würden ihn nicht für fünf gesunde Kinder eintauschen.“

In der Familienaufstellung fehlt noch ein Familienmitglied: Es heißt Mavie, ist sechs Wochen alt und die jüngste Tochter der Familie Rötzer. „Es war nicht geplant, dass wir noch ein Kind bekommen“, sagen die Eltern – auf ein zweites Kind auf natürlichem Wege hatten sie nicht zu hoffen gewagt. Mavie wurde bereits im Mutterleib auf die Erkrankung SMA getestet. Das Ergebnis: Mavie ist gesund. Martina Rötzer schaut auf ihre jüngste Tochter, die sie gerade zum Stillen im Arm hält, und sagt: „So ein gesundes Kind, das löst alles auf.“

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