Die Geschichte beginnt schon einmal gar nicht gut: mit Mord. Der eine Bruder bringt den anderen um. Der Auslöser ist nebensächlich, der Grund aber ein ewiger Quell geschwisterlichen Zwists: Neid. Kain war Bauer, Abel Schafzüchter. Beide opferten ihrem Gott. Beide wollten Wohlgefallen und Aufmerksamkeit, denn die Wirkung ihrer Opfergabe bestimmte ihr Glück. Aber nur einer, Abel, bekam die gewünschte Anerkennung. Kains Neidverarbeitung war zerstörerisch. Sie endete für Abel tödlich.
Als Role Model für eine konfliktfreie Geschwisterbeziehung gehen die beiden alttestamentarischen Symbolfiguren also nicht durch. Sie stehen vielmehr für die höchste Eskalationsstufe eines ambivalenten Duetts aus Koexistenz und Konkurrenz, der man nicht entfliehen kann: Eltern sterben, Partnerschaften lassen sich trennen, Freundschaften können zerbrechen – mit niemandem aber ist man so lange und unkündbar verbunden, wie mit seiner Schwester beziehungsweise seinem Bruder. Selbst wenn man sich nicht mag, lässt sich dieses Band nicht durchtrennen.

Geschwistererfahrung ist eine umfassende Schicksalsgemeinschaft, die sich aus seelischer Verbindung und körperlicher Nähe zusammensetzt, schreibt Susann Sitzler in ihrem 2014 erschienenen Buch „Geschwister“. Diese Dualität sei ihr größter Unterschied zu jeder anderen Art von Beziehung. Eine Geschwisterverbindung nährt sich aus der mit allen Sinnen erlebten Distanzlosigkeit. Das führt zwangsläufig auch zu Konfrontation, Eifersucht, Neid – und handfestem Streit.
Geschwisterhiebe statt Geschwisterliebe: Es ist der Stoff, der Geduldsfäden von Eltern reißen lässt und ihre Nervenkostüme zerfleddert. Die Botschaft von Erziehungswissenschaftlern und Psychologen, dass Streit unter Geschwistern „normal ist und einfach dazu gehört“ entfaltet ihre beruhigende Wirkung meist nur schaumgebremst.
Tatsächlich sind Zoff und Zank wesentliche Ingredienzien der sozialen und emotionalen Entwicklung bei Kindern und Bausteine beim Aufbau der eigenen Identität. Sie lernen, sich zu vergleichen und zu messen, sich abzugrenzen und eigene Standpunkte zu vertreten, Kompromisse zu schließen und sich zu wehren, sich zu verbünden und zu verzeihen.