Herr Platzer, Sie sind Mitherausgeber eines Buches zur Pandemie, das den Untertitel „Leben lernen mit dem Virus“ trägt. Müssen wir uns damit abfinden, dass uns Corona noch länger begleiten wird?
JOHANN PLATZER: Allen wissenschaftlichen Erkenntnissen nach, wird dieses Virus nicht verschwinden. Das heißt, wir müssen uns überlegen, wie wir gemeinsam damit umgehen wollen. Derzeit gibt es ein starkes Auseinanderklaffen verschiedener Meinungen. Das sorgt für viele Unsicherheiten bei den Menschen und dafür brauchen wir Strategien.

Was wird dabei die größte Herausforderung sein?
Abgesehen von medizinischen Aspekten wird die größte Herausforderung die Bewahrung des sozialen Friedens sein. Wir erleben Spaltungen in der Gesellschaft und unsere Aufgabe als Menschen wird es sein, den Blick wieder auf ein solidarisches Miteinander zu lenken.

Wie kann das gelingen?
Wir müssen lernen, im Gespräch miteinander auf das Polarisieren und Moralisieren zu verzichten. Denn nicht alle Menschen, die der Impfung skeptisch gegenüberstehen, sind irrational oder handeln egoistisch. Und nicht alle Geimpften sind solidarisch. Hier müssen wir weg von einem Denken in zwei Kategorien. Wir können gesellschaftlich nur dann weiterkommen, wenn wir uns nicht gegeneinander ausspielen, sondern wieder an einem Strang ziehen, um einen guten Umgang mit all diesen Herausforderungen zu finden.

Heißt das, man sollte jegliche Meinung und Handlung seines Gegenübers akzeptieren?
Nein. In manchen Bereichen muss es klare Grenzen geben, die nicht überschritten werden dürfen. Etwa wenn Politikerinnen und Politiker mit KZ-Ärzten verglichen werden oder im Zusammenhang mit der Impfung auf die Judenverfolgung verwiesen wird. Kommt es zu solchen Grenzüberschreitungen, dürfen diese nicht toleriert werden.

Bedeutet das, auch Toleranz hat ihre Grenzen?
Ja, denn wenn es grenzenlose Toleranz für Intoleranz gibt, schafft sich die Toleranz letztlich selbst ab und die Demokratie gerät in Gefahr.

Warum führen aktuelle Themen wie etwa die Impfpflicht für so viel Uneinigkeit in der Gesellschaft?
Weil sich viele meist nur auf das Recht auf Selbstbestimmung berufen und vergessen, dass sie auch moralische Pflichten haben. Deshalb muss für ein gelingendes Zusammenleben immer wieder auf die Solidarität verwiesen werden. Ein Beispiel: Eine Impfpflicht ist ethisch und rechtlich dann gerechtfertigt, wenn immer mehr Behandlungen für Geimpfte in den Spitälern verschoben werden müssen, um Kapazitäten für Ungeimpfte zu schaffen. Solche berechtigten Einsichten führen aber leider auch zu Auseinandersetzungen.

Was kann man als Einzelner dazu beitragen, das Miteinander in der Gesellschaft zu fördern?
Ich denke, es ist wichtig, dass wir uns nicht aus den Augen verlieren und dort hinsehen, wo Hilfe gebraucht wird. Das kann schon mit kleinen Initiativen wie einer Nachbarschaftshilfe beginnen.

Was kann man tun, wenn einem die ständigen Auseinandersetzungen über den Kopf wachsen?
Auch wenn es zurzeit wahrscheinlich unumgänglich ist, dass man bestimmte Entwicklungen im Auge behält, sollte man sich Pausen von Nachrichten und Diskussionen gönnen. Und dort wo es geht, dafür sorgen, dass die Normalität nicht verloren geht. Wenn man sich nur mehr auf Streitigkeiten konzentriert, wird es irgendwann zu viel und man funktioniert gar nicht mehr. Wichtig ist, sich zu überlegen: Was tut mir gut? Woraus schöpfe ich Kraft? Und was kann mir persönlich am besten dabei helfen, mit schwierigen Situationen umzugehen?