Was hat die kleine Sarah* mit einem Rennwagen der Formel eins gemeinsam? Beim Boxenstopp geht es bei ihr auch um Hundertstelsekunden. „Sie ist sehr ungeduldig, wenn sie hungrig ist“, sagt ihr Papa Josef W*. Das Milchpulver steht deshalb in der Nacht schon vorportioniert bereit sowie eine Thermoskanne Wasser. „Wir liegen mittlerweile bei unter 30 Sekunden“, lacht der Obersteirer, hinter dem ein besonders hartes Jahr liegt. Denn bei der Krankenakte seiner Tochter fragt man sich: Wo anfangen?

„Die Geburt war schon eine Action“, holt Sarahs Vater aus. Seine Frau wird am 11. April mit Wehen ins LKH Rottenmann eingeliefert – sechs Wochen vor dem Geburtstermin. Ein aus Leoben angeforderter Kinderarzt stellt fest, dass Sarah in Beckenendlage liegt. Josef W. kann aufgrund der Corona-Sicherheitsmaßnahmen nicht bei seiner Frau sein und wartet auf dem Parkplatz. Man beschließt, die Gebärende sofort nach Leoben zu transportieren, wo Sarah per Kaiserschnitt zur Welt kommt.

Notoperationen

„So hat es begonnen“, sagt ihr Vater und man ahnt bereits, dass man erst ganz am Anfang dieser Geschichte steht. Wenige Stunden später wird die Neugeborene für eine Notoperation ins LKH-Universitätsklinikum Graz transportiert, ihre Mutter folgt ihr nach. „Sarah hatte eine Analatresie, ihr Enddarm war nicht mit dem After verbunden, sie konnte keinen Stuhl ausscheiden“, sagt Josef W., der schon selbst wie ein Arzt klingt. „Wenn man diese Dinge jeden Tag hört, gewöhnt man sich das Vokabular an.“

Verengung der Luftröhre

Sarah muss noch ein zweites Mal notoperiert werden. Bei beiden Operationen ist es auffällig, dass sie schlecht auf die Beatmung anspricht. „Man hat eine Verengung der Luftröhre festgestellt. Beim MR hat man entdeckt, dass sie einen pulmonalen Sling hat. Eine der Hauptarterien ist um die Luftröhre herumgewickelt“, sagt Sarahs Vater. Ihr Zustand ist lebensbedrohlich. Das Mädchen bringt gerade einmal zwei Kilo auf die Waage. Der Plan: Wenn Sarah fünf Kilo wiegt, soll sie operiert werden. Auch bei einem anderen Baby wird zu diesem Zeitpunkt eine Engstelle in der Luftröhre festgestellt.

Lebensbedrohlicher Zustand

„Bei beiden war der Gesundheitszustand lebensbedrohlich“, fasst Holger Till, Vorstand der Universitätsklinik für Kinder- und Jugendchirurgie am LKH-Uniklinikum Graz zusammen. „Die Luftröhren hatten teilweise nur einen Durchmesser von zwei Millimetern und waren unter anderem von Blutgefäßen umschlungen. Außerdem kamen beide mit einem Loch in der Herzscheidewand zur Welt und litten unter weiteren Erkrankungen“, so Till.

„Man hat keine Zeit und auch keine emotionale Kapazität mehr, um auf jedes einzelne Erlebnis gebührend zu reagieren“, fasst Josef W. seine Gefühle zusammen. „Das Ziel von uns als Eltern war es immer, dass einer von uns bei einem unserer Kinder ist, und das haben wir geschafft“, denn Sarah hat noch eine zweieinhalb Jahre alte Schwester. „Julia* beschützt Sarah, und das, obwohl sie ein halbes Jahr eine imaginäre Schwester hatte. Wir haben immer von Sarah gesprochen, aber sie hat sie fast nie gesehen.“

Das Los der älteren Schwester

Auch heute darf die ältere Schwester viele Dinge nicht tun, weil schon ein Atemwegsinfekt den sicheren Tod ihrer Schwester bedeuten würde. Geschweige denn eine Infektion mit dem Coronavirus. Nun heißt es auf Abstand gehen zu Oma und Opa, die beruflich viel unter Menschen sind, oder auch zur gleichaltrigen Cousine, die im selben Haus wohnt. „Wir müssen uns gesellschaftlich sehr zurückziehen, um Sarah zu schützen. Das fällt uns schon schwer und vor allem für ihre Schwester ist es sehr hart.“

Zurück zur Diagnose: Während Sarah zunimmt und sich mehr als gut entwickelt – „sie war trotz allem immer ein glückliches Kind und hat viel gelacht“ – beginnt am LKH-Uniklinikum Graz im Hintergrund die Planung der OP. Einer Operation, die die erste ihrer Art an Säuglingen in Österreich sein soll, da Herz- und Gefäßfehlbildungen gleichzeitig mit den langstreckigen Luftröhrenverengungen korrigiert werden müssen.

Federführend ist der betreuende Arzt der Familie, Lutz Stroedter von der Kinder- und Jugendchirurgie, einer von vielen Ärzten, die den Eltern genau erklären, was bei der OP passieren wird. „Vertrauen ist das Allerwichtigste. Für die Gespräche mit den Eltern muss man auf beiden Seiten ausreichend Zeit einplanen. Eine Aufklärung oder Therapie mit der Stoppuhr gibt es nicht.“

Alle Hebel in Bewegung gesetzt

Den Widrigkeiten der Coronakrise zum Trotz werden alle Hebel in Bewegung gesetzt, um das Leben der Mädchen zu retten. So kommt für die Operation extra der britische Facharzt und Leiter der Abteilung für Herz-Thorax-Chirurgie des „Great Ormond Street Hospital for Children“, Nagarajan Muthialu, nach Graz.

Muthialu behandelt an der Londoner Spezialklinik Patienten, die an ähnlich komplexen Fehlbildungen leiden wie die kleinen Steirerinnen. Im Normalfall kommen die Patienten – gut 20 pro Jahr aus ganz Europa und Nordafrika – zu ihm. Um den beiden Mädchen hier in Graz zu helfen, nimmt der Arzt auch eine eventuelle Quarantäne bei seiner Rückreise nach London in Kauf.

Am 6. Oktober werden die beiden Patientinnen in einem jeweils vier Stunden dauernden Eingriff erfolgreich operiert. Im OP sind 17 Menschen im Einsatz – ein Team aus Kinderchirurgen, Kinderpulmologen, Kinderherzchirurgen und Kinderanästhesisten.

Besonders feine Schläuche

Um die nur wenige Zentimeter kurzen Engstellen im unteren Bereich der Luftröhren zu erweitern und die anderen Fehlbildungen korrigieren zu können, müssen die Babys an eine Herz-Lungen-Maschine angeschlossen werden. Igor Knez von der Klinischen Abteilung für Herzchirurgie: „Für unsere kleinen Patienten haben wir spezielle Systeme entwickelt, die über ganz besonders feine und kurze Schläuche verfügen, welche die kleinen Patienten mit der Maschine verbinden.“

Weil Sarah sich so gut entwickelt, darf sie schon am 29. Oktober heim. Zum ersten Mal in ihrem Leben. Alle zwei Wochen muss sie nun zur Nachkontrolle ins LKH-Uniklinikum Graz, wo unter Vollnarkose ihre Luftröhre immer wieder gedehnt wird.

Narbe - Zeichen, überlebt zu haben

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Für ihre Eltern ist sie ein ganz normales Kind, das stark ist, viel lacht, Menschen liebt, Freude am Leben hat und eben etwas ungeduldig ist. Ihre Narben soll sie einmal wie eine Trophäe tragen, das wünschen sich ihre Eltern – als Zeichen, das alles überlebt zu haben. Wie die Familie heuer Weihnachten feiert? Im kleinen Kreis, sehr dankbar – vielleicht unterbrochen von dem einen oder anderen Flascherl-Boxenstopp.

*Namen auf Wunsch der Familie von der Redaktion geändert