Fall Nummer eins: Eine Fünfjährige verletzt sich beim Rutschen auf einer an einer Sprossenwand eingehängten Bank im Kindergarten. Vom Kindergartenbetreiber wird Schadenersatz verlangt. Der Oberste Gerichtshof (OGH) entscheidet: Die Aufsichtspflicht wurde verletzt. Die Kindergartenpädagogin hätte beim Rutschen neben der Bank stehen müssen – sie war beim Unfall aber anderweitig im Raum beschäftigt.

Fall Nummer zwei

Ein neunjähriges Mädchen erwirbt mit dem Wissen seines Opas auf dem Jahrmarkt einen Feuerwerkskörper der Klasse 1, der keiner Verkaufsbeschränkung unterliegt. Mit Erlaubnis des Großvaters entzündet das Mädchen die „Feuer-Wespe“ im Hof der Tante, der Großvater bestimmt dafür einen Platz in vermeintlich sicherer Entfernung von Autos und Gebäuden. Die „Wespe“ verursacht dennoch einen Brand des Wirtschaftsgebäudes. Der OGH verneint in diesem Fall eine Verletzung der Aufsichtspflicht des Großvaters: weil der Feuerwerkskörper nur einer der Klasse 1 war und der Mann bestrebt war, die Gefährdung fremden Eigentums zu vermeiden.

Die Beispiele bringen das allgemeine Problem mit dem Thema Aufsichtspflicht auf den Punkt: Wo sie beginnt und wo sie endet, kann immer nur im Einzelfall geklärt werden. „Obwohl sie in vielen Gesetzen erwähnt wird, existiert eine Legaldefinition von Aufsichtspflicht nicht“, sagt der Grazer Rechtsanwalt Heimo Hofstätter. „Die eigentliche Begriffsbestimmung erfolgt durch die Rechtsanwendung der Gerichte.“ Daraus hätten sich folgende drei Grundsätze ergeben:

  • Erstens haben aufsichtspflichtige Personen dafür zu sorgen, dass die ihrer Aufsicht unterstehenden Kinder weder selbst zu Schaden kommen noch anderen Personen Schaden zufügen.
  • Zweitens hängt das Maß der Aufsichtspflicht davon ab, welche Schädigung aufgrund von Alter, Eigenschaft und Entwicklung des Kindes vorhersehbar ist und vom Aufsichtspflichtigen vernünftigerweise verhindert werden kann.
  • Und drittens muss die Aufsichtspflicht laut OGH lebensnah verstanden werden und darf nicht unrealistisch überspannt werden.
Der Grazer Rechtsanwalt Heimo Höfstätter
Der Grazer Rechtsanwalt Heimo Höfstätter © KLZ Eder

Der OGH nahm, wie Heimo Hofstätter betont, in seiner Rechtsprechung meistens dann keine Aufsichtspflichtverletzung an, wenn die Einhaltung eines Verbotes durch Kinder erwartet werden konnte, dies in der Folge aber dennoch nicht geschah. „Dagegen handelte es sich laut OGH aber sehr wohl um eine Verletzung der Aufsichtspflicht, als einem Elfjährigen ohne Beisein Erwachsener das Hantieren mit einem Luftdruckgewehr ermöglicht wurde beziehungsweise als ein Neunjähriger unbeaufsichtigt mit dem Rad im Straßenverkehr unterwegs war“, sagt Hofstätter.

Bis zur Volljährigkeit

„Grundsätzlich beginnt die Aufsichtspflicht für Eltern mit der Geburt ihres Kindes und endet mit seiner Volljährigkeit“, sagt der Jurist. „Kann ein Kind mit zunehmendem Alter mehr Verantwortung übernehmen, wird auch die Aufsichtspflicht der Eltern gelockert.“

Allein die Verletzung der Aufsichtspflicht reicht jedenfalls nicht, damit es zur Haftung des Aufsichtspflichtigen kommen kann: „Es müssen noch weitere Voraussetzungen wie Schaden und Ursächlichkeit (Kausalität) vorliegen“, betont der Jurist.

Wenn Kinder haften

Haften können freilich auch Kinder selbst. „Unmündige Minderjährige, das sind Kinder unter 14 Jahren, haften aber nur subsidiär, also wenn kein Aufsichtspflichtiger haftet. Und sie haften nur nach Billigkeit“, erläutert Hofstätter den Sachverhalt. Anders gesagt: Das Gericht hat in jedem Einzelfall abzuwägen, ob das Kind ein Verschulden trifft, das es einsehen kann, und ob das Kind den Schaden leichter tragen kann als der Geschädigte – etwa, weil es selbst Vermögen hat. „Dazu muss man wissen, dass auch das Bestehen einer Haftpflichtversicherung, etwa als Teil einer Haushaltsversicherung, zum Vermögen des Kindes gehört“, betont der Experte. Auf dieser Basis wurde heuer auch ein 13-jähriger Torwart wegen eines schweren Fouls zu Schadenersatz verpflichtet.

Ab 14 ist alles anders

Anders ist der Fall bei Minderjährigen ab 14 Jahren. „Sie sind gemäß Paragraf 176 des Allgemeinen Bürgerlichen Gesetzbuches grundsätzlich deliktsfähig und schadenersatzpflichtig“, sagt der Jurist. Im schlimmsten Fall können Geschädigte gegen Kinder also vor Gericht ein Urteil erwirken, das diese zur Schadenersatzleistung aus eigenem Vermögen verpflichtet. Fehlt ein derartiges Vermögen, womit wohl in den meisten Fällen zu rechnen sein wird, heißt es für den Kläger dann freilich „Bitte warten“. „Das Urteil gilt 30 Jahre lang“, sagt Hofstätter.

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