Ihr neues Album heißt Utopia. Dazu passt gut ein Zitat von Oscar Wilde: „Eine Landkarte, auf der das Land Utopia nicht verzeichnet ist, verdient keinen Blick.“ Wie sieht es denn aus in Ihrem Land Utopia?
KONSTANTIN WECKER: Es ist ein Land des herrschaftsfreien Zusammenlebens. Und ich höre nicht auf, davon zu träumen. Diese Idee muss irgendwann verwirklicht werden, sicher nicht mehr zu meinen Lebzeiten, weil sonst die Menschheit zugrunde geht. Denn was hat uns die Herrschaft in den letzten Tausenden von Jahren angetan? Die Menschen geknechtet oder vernichtet, die Tierwelt auch, die Umwelt sowieso – kurz: alles kaputtgemacht. Das muss irgendwann enden. Ich glaube, dass viele Menschen erkannt haben, dass es so nicht mehr weitergehen kann.

Jetzt wird man Sie wohl einen naiven Träumer nennen. Und das berühmte Utopia von Thomas Morus, geschrieben vor rund 500 Jahren, war ja auch nicht perfekt.
KONSTANTIN WECKER: Keine Utopie ist perfekt, auch meine nicht. Was Oscar Wilde meint: Utopia ist ein Sehnsuchtsort, der immer weiterentwickelt werden muss. Und zwar nicht von den Vordenkern und schon gar nicht von Führern, sondern von den Menschen selbst.

Sie sprechen auf dem neuen Album auch oft von Anarchie. Das bedeutet nicht Chaos, sondern Ordnung ohne Herrschaft. Das bedingt aber Selbstverantwortung. Sind wir denn dazu fähig?
KONSTANTIN WECKER: Wir müssen es lernen. Noch geben wir Verantwortung nur allzu gerne ab, deshalb ist auch der Ruf nach Führern so verlockend. Dann muss man nicht selbst denken. Es ist aber auch Aufgabe von uns Künstlern, da gegenzusteuern. Über Musik und Poesie etwa kann man bei den Menschen ganz andere Saiten anschlagen. Die Ratio ist auch wichtig, aber nur mit ihr kann man sich sehr verrennen.

Beim Anhören des neuen Albums hat man das Gefühl, dass da der alte, also frühe Wecker den Ton angibt. War es wieder an der Zeit, dass der Revoluzzer in Ihnen auf den Tisch haut?
KONSTANTIN WECKER: Da haben Sie schon richtig gehört. Aber auf der anderen Seite beschäftige ich mich in den neuen Liedern und Gedichten auch sehr mit dem Alter. Vor allem meine Gedichte waren für mich immer ein Wegweiser, ich hab mich zeitlebens von ihnen überraschen lassen. Meine Gedichte gehen oft tiefer in mich hinein als meine Gedanken. Die neuen Gedichte sind mir in den letzten Monaten zugeflogen, aber musikalisch hatte ich zuerst ganz andere Vorstellungen. Aber als es so weit war, habe ich zu meinen Musikern gesagt: „Leute, die meisten dieser Lieder fordern unbedingt eine kammermusikalische Umsetzung.“ Da ist jetzt ganz viel Schubert zu spüren.

Was hat das Älterwerden denn mit Ihnen gemacht? Können Sie sich jetzt einen besseren Reim auf sich selbst machen als früher?
KONSTANTIN WECKER: Einen etwas besseren, ja. Aber ich habe ja ganz absichtlich diesen Faust’schen Prolog „Wer bin ich?“ an den Anfang der Platte gestellt. Es ist nicht so, dass ich das Gefühl habe, endgültig angekommen zu sein.

Ein Satz aus diesem Prolog: „War ich mir je bekannt oder ist alles nur dem geschuldet, was man Muster nennt?“
KONSTANTIN WECKER: Ich muss zugeben, dass meine Texte immer klüger waren als ich. Das ist kein Verdienst, sondern ein ganz großes Glück. Und eines meiner ersten Lieder ist ein Motto geblieben für mein ganzes Leben: „Ich singe, weil ich ein Lied hab.“ Heute könnte ich vielleicht singen: „Ich singe, weil mich ein Lied hat.“ Das klingt etwas bescheidener. Und zu den Mustern: Natürlich habe auch ich nach Schnittmustern gelebt. Sie werden weniger, aber sie sind immer noch da.

Welche Chancen birgt das Alter?
KONSTANTIN WECKER: Wir haben so viele Ichs im Leben und uns so oft eingeredet, wer wir angeblich sind. Jetzt habe ich die Chance, meinem wahren Selbst zu begegnen.

Kurzer Seitensprung zur Pandemie. Sie glauben, dass sie eine Wende zum Besseren bewirken könnte. Woher der Optimismus?
KONSTANTIN WECKER: Kapitalismus und Neo-Liberalismus werden noch einmal brutal um sich schlagen, weil sie spüren, dass sie am Ende sind. Man sieht das auch daran, wie viele Firmen sich noch schnell bereichert haben während der Pandemie. Früher hätte man dazu Kriegsgewinnler gesagt. Deshalb hoffe ich, dass viele Menschen sehen, wie unsolidarisch dieser grausliche Neoliberalismus ist – und daraus lernen. Das könnte den Keim der Veränderung in sich tragen.

Sie singen oft über Verwundbarkeit und Zerbrechlichkeit. Haben Sie sich beides bewahrt?
KONSTANTIN WECKER: Ich hoffe! Ich hätte einmal eine Biografie schreiben sollen. Das wollte ich nicht. Stattdessen habe ich ein Buch geschrieben, das den Titel „Die Kunst des Scheiterns trägt“. An den Bruchstellen – selbstverständlich auch an meinen eigenen – sieht man das Leben klar. Dieses Buch war für mich sehr lehrreich, weil ich mich intensiv mit meinen Niederlagen beschäftigt und gelernt habe, dass die Kunst des Scheiterns darin besteht, dass man das Scheitern auch als solches akzeptiert. Und zwar als eigenes Scheitern. Niemand anderer trägt Schuld.

Haben Sie Seiten an sich entdeckt, die Sie erschreckt haben?
KONSTANTIN WECKER: Ich habe einmal in einem Film einen SS-Mann gespielt, ein absolutes Dreckschwein. Ich trug natürlich eine Uniform. Und plötzlich merkte ich: Ich muss nicht spielen, ich bin dieser SS-Mann. Ich habe mich so geschämt für mich, als ich die Uniform dann wieder ausgezogen habe. Da habe ich eine Seite in mir entdeckt, die ich nie wahrhaben wollte. Ich will damit sagen: Es wohnt alles ins uns. Auch der SS-Mann. Und es gibt den berühmten Satz eines jüdischen Schriftstellers: „Nur der darf sich Antifaschist nennen, der den Faschisten in sich entdeckt hat.“ Dieses Erlebnis hat mich sehr geprägt.

44 Jahre nach dem ersten „Willy“-Lied gibt es auf diesem Album das Lied „Willy 2021“. Es ist einem jungen Rumänen namens Vili Viorel Paun, der vom rassistischen Amokläufer in Hanau 2020 getötet wurde.
KONSTANTIN WECKER: Als ich das erste „Willy“-Lied geschrieben hab, also 1977, gab es zwar noch einen Haufen Altnazis, aber relativ wenig Neo-Nazis. Damals hätte ich mir eine so stramme rechte Szene, wie sie derzeit existiert, nicht vorstellen können. Wir müssen im Moment ganz furchtbar aufpassen, weil sich Faschismus durch Mythen nährt. Und Mythen, man könnte sie auch Fake News nennen, kann man nicht widerlegen. Die Mythenbildung während der Pandemie ist bekanntlich sehr stark geworden – und das ist brandgefährlich.