Wieso erobert ein Song, der vom Erwerb eines Führerscheins handelt, die weltweiten Charts? Und wieso ist dieser trockene Sachverhalt Grund für ein nasses Tränen-Drama? Die Erfolgsgeschichte des Songs „Driver’s License“ der 17-jährigen Olivia Rodrigo kann auf zwei Weisen erzählt werden. Vor allem der Objektivität wegen. Der Nährboden der Geschichte ist in jedem Fall derselbe: Wer in den USA zwischen Highschool-Stress und Schlaf Zeit für jugendliche Liebesabenteuer findet, benötigt dafür oft ein Auto. Der nächste Stadtkern ist weit entfernt, in Shopping-Malls ist es nicht zwingend romantisch, das elterliche Haus ist – Sie wissen schon. Die Gesetzeslage macht es möglich: In 15 Staaten des Landes darf man seinen Führerschein bereits mit 16 Jahren erwerben.

Damit hat Olivia Rodrigo mit ihrem ersten Solo-Song „Driver’s License“ den Nerv und Schmerz einer gesamten Altersgruppe getroffen. In der zarten Klavier-Ballade, die irgendwo zwischen Taylor Swift’scher Text-Ästhetik und der fragilen Eleganz einer Lorde steht, thematisiert Rodrigo eine Notlage der jungen Erwachsenen: das Scheitern der ersten großen Liebe, die zu Unrecht gern als naive Gefühlslächerlichkeit abgestempelt wird. „Letzte Woche habe ich meinen Führerschein bekommen. So wie wir es immer besprochen haben. Du hast dich so gefreut, dass ich endlich zu deinem Haus fahren kann“, singt Rodrigo im ersten Vers.



In der darauffolgenden Strophe erfährt der Hörer von einer neuen Geliebten. Eine blonde, ältere Frau. „Sie ist alles, wofür ich mich unsicher fühle“, heißt es dort. Gekonnt entführt Rodrigo in die paradoxe Seelenlandschaft zwischen Teenage-Fieber und beginnender Adoleszenz. Eine Zeit, in der man sich nicht selbst über den Weg traut, nicht Fisch nicht Fleisch ist. Eine Zeit, die die ausschließliche, einzigartige Liebe zu einem Menschen vorwegnimmt. Wohlwissend, dass da draußen weitere Personen warten, denen man sein Herz zum Brechen anvertrauen kann.  Der andere Blick auf die Geschichte: In den USA, Australien, Großbritannien und sechs weiteren Ländern schaffte Rodrigo den Sprung von 0 auf Platz 1 der Charts.

Momentan hält der Song bei 350 Millionen Streams. Doch das Märchen hat seine Schönheitsfehler. Olivia Rodrigo ist keine Quereinsteigerin. Sie kommt – wie so viele Pop-Stars (Miley Cyrus, Selena Gomez) – aus der Disney-Schmiede. Bekannt wurde sie als Schauspielerin der Serie „High School Musical“. Dieser Umstand ist wichtig, wenn man die Furore im Netz verstehen will. Wirklich neuartig klingt das Werk nämlich nicht. Behauchung und Intonation orientieren sich – wie fast alles derzeit – an Billie Eilish. Zu verdanken hat Rodrigo den Erfolg der Handy-App „TikTok“.

Auf diesem Programm verkommt die Musikkunst zur sprichwörtlichen Hintergrundmusik. Auf TikTok haben stets jene Lieder Erfolg, die mit prägnanten Melodienschnipseln zu Tanz- und Karaoketrends animieren. Ganze Stücke spielen keine Rolle. Immer öfters werden Refrains deswegen an den Anfang eines Songs gepackt. In Rodrigos Fall filmen sich unzählige User beim Weinen. Die meisten zu Hause, manche sogar im Auto, das in der Straße des Ex-Partners parkt. Außerdem Teil der emotionalen Verkettung, die das Netz beschäftigt: Der Bursch, den Rodrigo in der Disney-Serie „High School Musical“ liebt, ist im echten Leben mit einer älteren Blondine zusammen. Für Hype-Maschinen wie diese braucht man schon einen Führerschein.