Ende 2009 hält Taylor Swift gerade ihre Dankesrede für das „Beste Video einer weiblichen Künstlerin“ bei den MTV Awards in New York, als Kanye West zu ihr auf die Bühne springt und sie unterbricht: „Ich freue mich für dich, aber Beyoncé hat eines der besten Videos aller Zeiten gemacht!“ Seine Empörung darüber, dass man Beyoncé übergangen hatte (die Wests Auftritt selbst erschrocken im Publikum mitverfolgte), sorgte im Anschluss für Empörung über den Rüpel-Rapper, der Swifts großen Moment verdorben habe. 2018 sagte West in einem Interview über die Sklaverei: „Wenn man von über 400 Jahre langer Sklaverei hört: 400 Jahre lang? Das klingt für mich nach eigener Wahl.“ Der Shitstorm, der danach über den Musiker niederging, war enorm: Man warf ihm vor, dass er meine, die Plantagensklaven hätten irgendwann in ihrem Leben einmal eine Wahl gehabt.

Das sind zwei Beispiele von vielen Skandalen und Skandälchen, die den Weg des heute 43-jährigen Kanye West an die Spitze der Popmusik begleitet haben. Man muss sich über seine abenteuerlichen Aussagen der letzten Tage über das Vorhaben, US-Präsident zu werden, und seine verwirrten Tweets auch deshalb gar nicht wundern. Wests öffentliches Auftreten ist seit Jahren so kontroversiell wie schrill. Der Mann hält sich für ein Genie, für gottgleich. Die Beobachter vermuteten hinter dem zur Schau gestellten Größenwahn einmal geniales Marketing, einmal wiederum das ungefilterte Gebrabbel eines egomanen Künstlers oder auch die bemitleidenswerten Aussagen eines an einer bipolaren Störung erkrankten Patienten.

Peinlicher Auftritt: Kanye West und Taylor Swift bei den MTV-Awards
Peinlicher Auftritt: Kanye West und Taylor Swift bei den MTV-Awards © (c) AP (Jason DeCrow)

Alle Vermutungen passen auf gewisse Weise auf Kanye Wests Kunst. Die ist vor allem eines: groß. Schon sein Debüt „The College Dropout“ wurde 2004 in den Himmel gelobt. Kanye West definierte den Hip-Hop neu: Er führte die Rapmusik weit weg von den Gangster-Klischees zu einem musikalischen Facettenreichtum, der fast ohne Vergleich ist. West ist ein genialer Produzent, der einfach alles kann: die himmlische Popmelodie, den knochentrockenen Beat, den Ohrwurm und das Experiment. Er ist ein einzigartiger Klangalchemist, der Elementen aus Soul und Funk, Rock, Disco und Gospel eine neue Gestalt gibt. Seine Alben wurden zusehends megaloman: 2010 erreicht er mit „My Beautiful Dark Twisted Fantasy“ einen künstlerischen Höhepunkt. Es ist ein gigantisches, komplexes, in jedem Moment überlebensgroßes Werk, das die Maßstäbe für Popmusik neu legte. Seine folgenden Alben wie „Yeezus“ und „The Life of Pablo“ konnten dieses etablierte Niveau halten. Die Musik wird dabei oft von Videos beziehungsweise Kurzfilmen begleitet, die besser in die Tate Gallery of Modern Art oder ins Centre Pompidou passen als auf MTV. Mit dem kongenialen Jay-Z veröffentlichte er ein Doppelalbum, er installierte ein Modelabel, dem er mit gigantischem Aufwand Aufmerksamkeit verschafft, und letztlich heiratete er mit Kim Kardashian das größte aller It-Girls.

Kim Kardashian West und Kanye West
Kim Kardashian West und Kanye West © (c) Evan Agostini/Invision/AP (Evan Agostini)

Als Konzeptkünstler scheint er bei der Aufhebung der Grenze zwischen Kunst und Leben noch weiter als ein Joseph Beuys oder ein Jeff Koons zu gehen. Was „echt“ ist und was „gespielt“, was Inszenierung und was Gefühl, ist nicht mehr unterscheidbar. West lebt die Inszenierung als Realität und macht die Realität zur Inszenierung. Es geht bei ihm nicht mehr um die Unterscheidung dieser Sphären, sondern um einen stetigen Fluss von Zeichen, Symbolen, Handlungen, Klängen, Aussagen und Sounds, mit denen er die medialen Kanäle dieser Welt bespielt, ja flutet. Sein erratisches Verhalten, die offensichtlichen Verwirrtheiten könnten auch Symptome einer bipolaren Störung sein. Nicht nur auf dem 2018-er-Album „Ye“ hat er die Krankheit zum Thema gemacht. Diese Woche bat Ehefrau Kardashian um Verständnis für Wests merkwürdige Twitter-Ausritte. Wieder einmal. Sie hat schon vor Jahren begonnen, hinter ihrem Mann hinterherzuräumen. Man kann einen eminenten Künstler wie West aber selbstverständlich nicht auf eine mutmaßliche Krankheit reduzieren, seinen bisweilen größenwahnsinnigen Antrieb, Bedeutendes zu schaffen, als Produkt einer manischen Phase abheften, und ihn zu einem Opfer einer labilen psychischen Konstitution machen.

Selbst Wests skandalträchtige Aussetzer haben manch Erhellendes. Als er Taylor Swift damals bedrängte, war das nicht auch eine Intervention, um auf die Diskriminierung von Afroamerikanerinnen aufmerksam zu machen? Und ist sein umstrittener Satz von der „Sklaverei als Wahl“ nicht vielmehr eine Aufforderung an Schwarze, die geistige Sklaverei zu beenden und sich nicht mehr nur als Opfer zu betrachten?

Für dieses Wochenende hat West auf üblich konfuse Weise das neue Album „Donda“ angekündigt, das nach seiner 2007 verstorbenen Mutter benannt sei. Der Vorbote war die Single „Wash Us in the Blood“, eine schmerzvolle und wütende Reflexion über „Black Lives Matter“ und die Lage der Schwarzen in den USA. Ja, es ist schon wieder ein Meisterwerk zwischen Spiritualität, Politik, Katharsis und Verzweiflung.

Die Nummer ruft uns in Erinnerung, dass dieser seltsame Mensch der Welt einige der größten Kunstwerke dieses Jahrhunderts gegeben hat. Aber wie rappte West selbst 2018 auf der Nummer „Feedback“: „Zeig mir ein Genie, das nicht verrückt ist.“