Er kritisierte die Macht des Kapitals und erzielte am Kunstmarkt sagenhafte Preise, er war Mitbegründer der Grün-Bewegung und fuhr mit dem Fahrrad zur Vernissage, das er zuvor aus dem Kofferraum seines Bentley geholt hatte. Er liebte Fett und Filz, weil ihn damit Krim-Tartaren 1944 nach einem Flugzeugabsturz gesund gepflegt haben sollen. Er „erklärte“ einem toten Hasen „die Bilder“ und verbrachte drei Tage lang mit einem Kojoten in einer New Yorker Galerie – ein Meilenstein in seiner Karriere als Oberschamane der deutschen Nachkriegskunst.

Mit Filzdecke überzogen wie ein Schamane verbrachte Beuys 1974 drei Tage mit einem Kojoten in einer New Yorker Galerie
Mit Filzdecke überzogen wie ein Schamane verbrachte Beuys 1974 drei Tage mit einem Kojoten in einer New Yorker Galerie © kk/ap

Seine Gegner sahen in all dem nur den Beweis, dass der einstige Wehrmachtsfunker bei seiner Bruchlandung einen bleibenden Schaden davongetragen haben musste, oder mehr noch: vielleicht sogar ein Scharlatan war. Auch heute, 35 Jahre nach seinem Tod, gibt es berechtigte Zweifel an der Ernsthaftigkeit des Düsseldorfer Kunstprofessors, der seine Biografie mythisch überhöhte und Unbequemes aussparte, etwa seine Kriegseuphorie als freiwilliger Stuka-Flieger. Dennoch gilt Joseph Beuys heute als einer der wirkmächtigsten Künstler des 20. Jahrhunderts, nicht zuletzt dank seiner Idee der Sozialen Plastik – einer Vorstellung von Kunst als Akt des politischen und gesellschaftlichen Gestaltens, die er eloquent in unzähligen TV-Diskussionen und Interviews verteidigte.
Am kommenden Mittwoch wäre der „heilige Jupp vom Niederrhein“ 100 Jahre alt geworden – für rund drei Dutzend Museen zwischen Osaka und Hamburg Anlass für Würdigungen und Retrospektiven. Auch für das Wiener Belvedere 21, wo noch bis Mitte Juni 64 Werke von Beuys zu sehen sind, darunter sein „Eurasienstab“, mit dem er 1967 in der Galerie nächst St. Stephan das Ende des Kalten Kriegs heraufbeschwor oder seine „Honigmaschine“, mit der er zehn Jahre später durch die Ausstellungsräume der Kasseler „documenta“ Honig fließen ließ.

Teile der "Honigmaschine" in der aktuellen Beuys-Ausstellung im  Wiener Belvedere 21
Teile der "Honigmaschine" in der aktuellen Beuys-Ausstellung im Wiener Belvedere 21 © APA/THOMAS RIEDER

Vom Bildhauer zum Fluxus-Künstler

Doch bis der Kaufmannssohn aus Krefeld zum Guru des Fluxus (fluere, lat. = fließen) und einer ganzen Künstlergeneration avancierte, verlief sein Weg in weitgehend berechenbaren Bahnen. Als Meisterschüler von Ewald Mataré zum Bildhauer ausgebildet schuf er zunächst klassische Mosaike und Reliefs, etwa für das Südportal des Kölner Doms. Ein monumentales Eichenkreuz für ein Mahnmal zu Ehren der Weltkriegsopfer in Meerbusch-Büderich markierte 1958 das Ende dieser Phase. Ein Jahr später heiratete er die Zoologen-Tochter Eva-Maria Wurmbach, die ihm zwei Kinder schenkte. 1961 übernahm er den Düsseldorfer Lehrstuhl für Bildhauerei, um fortan mit ersten Fluxus-Abenden und Happenings für Aufsehen zu sorgen. Unter dem Einfluss des Anthroposophen Rudolf Steiner entwickelte er alsbald seinen erweiterten Kunstbegriff, der in seinem berühmten Credo gipfelte: „Jeder Mensch ist ein Künstler, ein Gestalter im Bereich der sozialen Kunst“.

Indem er die Kunst vom Sockel des Elitären holte und jeden Menschen zur kreativen Teilhabe an der Gesellschaft ermächtigte, waren Konflikte mit dem traditionellen Kunstbetrieb vorgezeichnet. Den Höhepunkt dieser Auseinandersetzung bildete 1972 sein Rauswurf aus der Kunstakademie, nachdem er zuvor 142 abgelehnte Bewerber in seine Meisterklasse aufgenommen hatte. Prominente Unterstützer wie Heinrich Böll, Peter Handke oder David Hockney protestierten vergeblich gegen seine Entlassung, die Wiener „Angewandte“ bot ihm Jahre später eine Professur an, die Beuys aber ausschlug.

Obwohl er gegen die Macht des Kapitals wetterte, konnte er nicht verhindern, dass er selbst zum Spekulationsobjekt wurde. 1969 erzielte seine Installation „Das Rudel“, bestehend aus einem alten VW-Bus und 24 Schlittenobjekten, einen ähnlich hohen Preis wie die teuersten Werke der amerikanischen Pop Art. Als das Münchner Lenbachhaus 1980 für 270.000 D-Mark ein Environment aus Leichenbahren und Fett erwarb, war in den Zeitungen von Steuergeldverschwendung und dem „teuersten Sperrmüll aller Zeiten“ zu lesen. Im gleichen Jahr befand sich Beuys, der auch feinsinnige Zeichnungen schuf, auf dem Höhepunkt seines Ruhms. Erstmals führte er den „Kunstkompass“ der weltweit einflussreichsten Künstler an, mit Robert Rauschenberg und Andy Warhol im Nacken. In der Liste der „Unsterblichen“ rangiert er heute hinter Warhol auf Platz zwei.

Stadtverwaldung und Öko-Pionier

An seiner großen Strahlkraft für den Kunstbetrieb, den er in den politischen und sozialen Raum öffnete, dürfte sich vorerst nicht viel ändern. Ähnliches gilt für seine Bedeutung als Öko-Aktivist. Als Mitbegründer der deutschen Grünen kandidierte er 1979 sogar für das Europaparlament, doch nachhaltiger waren seine Massenbepflanzungen, etwa seine Aktion „Stadtverwaldung statt Stadtverwaltung“, die Kassel 7000 Eichen bescherte. Den letzten Baum pflanzte sein Sohn Wenzel bei der „documenta“ 1987.

Er wolle gar nicht verstanden werden, betonte Beuys immer wieder und nannte sich gerne einen „Narren“ und „Märchenerzähler“, der die Leute „nur nicht langweilen“ wolle. Sein Unterhaltungswert überdauerte selbst seinen Herztod im Jänner 1986. Als kurz darauf eine Reinigungskraft der Düsseldorfer Kunstakademie eine der berühmten Beuys’schen Fettecken entfernte, war das ein Skandal mit Gerichtsfolgen. Aus den Butterresten, die ein Schüler des Meisters jahrzehntelang hütete, haben dann junge Künstler im Jahr 2014 Schnaps gebrannt.
Das hätte dem Mann mit dem Hut und der Anglerjacke ganz sicher gefallen – als ultimativer Beweis für das hochprozentige Wirken seines unsterblichen Geistes.