Diesen Ausschnitten ist nicht zu trauen: Wimpernhärchen, die wie Drahtbürsten aussehen. Augenpartien, die den Menschen um Generationen älter machen. Oder Brauen, die Gebirgsfurchen ähneln. Die sensationelle Ausstellung "Faces. Die Macht des Gesichts" in der Wiener Albertina skizziert die radikale Erneuerung der Porträtfotografie der Zwischenkriegszeit in Österreich und in Deutschland. Gesichter werden darin von der Avantgarde nicht mehr als Abbild von der Persönlichkeit betrachtet, sondern als formbares Material und werden so zur Projektionsfläche der eigenen künstlerischen Visionen. Eine Technik, die später auch der Nationalsozialismus nutzen sollte.

Eines vorweg: Die Aufnahmen wirken außerordentlich modern. Ausgelotet werden neben Licht- auch die Geschlechterverhältnisse, Identitäten, politische Ideologien und Gesellschaftsumbrüche. Im Zentrum der Schau stehen die Arbeiten des wenig bekannten Helmar Lerski, der 1871 in Straßburg geborene Künstler musste vor den Nazis flüchten. Leski drehte das Rollenverständnis um: Die von ihm Proträtierten waren nur Mittel zum Zweck, die Hauptrolle kam der Beleuchtung zu. In seinem Opus Magnum "Verwandlungen durch Licht" aus den Jahren 1935/36 formte er das Gesicht eines Darstellers auf eindringliche Weise. 33 dieser skulptural anmutenden Fotos zeichnen einen Mann mit glänzender Haut, tief liegenden Augen, in Szene gesetzten Sommersprossen oder dicker Brille zwischen Heroik, Zweifel, Angst und Freude nach und strotzten vor Referenzen  u.a. an die "Charakterköpfe" von Franz Xaver Messerschmidt. In diesen Gesichtern könnte man sich verlieren. Lerski war ein Lichtmagier. Inspiriert vom expressionistischen Stummfilm, sind die Aufnahmen fast wie eine Fortsetzung seiner Arbeit als Kameramann und Techniker - u.a. am Set von Fritz Langs Klassiker "Metropolis" (1927).

Aus der Reihe "Verwandlungen durch Licht" von Helmar Lenski
Aus der Reihe "Verwandlungen durch Licht" von Helmar Lenski © Museum Folkwang - Essen

An anderer Stelle der Ausstellung beeindruckt August Sanders Langzeitprojekt „Menschen des 20. Jahrhunderts“, dem er sich ab 1925 widmete. Er hatte kein geringeres Ziel, als die gesamte Gesellschaft der Weimarer Republik abzulichten und zu katalogisieren. In Wien zu sehen ist ein höchst diverser Ausschnitt - u.a. eine Putzfrau, ein blinder Bergmann, Boxer, Jungbauern im Sonntagsanzug, drei auf einem Hauseingang sitzende Revolutionäre, ein Konditormeister, ein Herr Lehrer und ein Arbeitsloser.

Vom weißbekittelten Konditor und Polizeibeamten mit imposantem Schnurrbart, über den Baukünstler mit klassischer Architektenbrille bis hin zum Arbeitslosen, dem die Sorgen des Alltags schwer auf den Schultern zu lasten scheinen. Zeigte Sanders imposantes Archiv noch eine höchst diverse Gesellschaft, diente das Gesicht im sozial aufgeheizten Umfeld der Weimarer Republik, im österreichischen Ständestaat und im Nationalsozialismus schließlich als Projektionsfläche für politische Ideologien und zur Heroisierung von Arbeitern und Bauern.

Faces. Die Macht des Gesichts. Bis 24. Mai 2021. Albertina Wien. Täglich 10 bis 18 Uhr. www.albertina.at