Herr Schuen, was macht man als Sänger im Lockdown, wenn nicht gerade eine Trockendock-Produktion in einem Opernhaus vorzubereiten ist?
ANDRÈ SCHUEN: Im ersten Lockdown bin ich mit Glücksgefühlen nach Graz geflogen, also nach Hause, weil ich mir gedacht habe, eine Auszeit kann nicht schaden. Nach einer Woche Urlaub war relativ schnell wieder der Drang da, Ordnung in meinen Tag hineinzubringen, über die Zukunft nachzudenken. Dann geht es wieder daran, die Stimme aufzubauen, mehr Sport zu machen, viel zu kochen, das ist mein größtes Hobby. Dementsprechend habe ich dann im ersten Lockdown ein paar Kilos zugelegt.

Und beim zweiten und dritten Mal?
Jetzt komme ich auch an meine Grenzen, mich selber zu motivieren. Vor allem, weil man zum x-ten Mal Partien im Voraus lernt und dann kommt erst nichts daher.

Was steht überhaupt noch im Kalender?
Jetzt bleiben nur noch die Konzerte in Spanien. Und ich habe versucht, nach  Schuberts Liedzyklus "Die schöne Müllerin" die nächste Aufnahme zu organisieren.

Welche?
„Schwanengesang“. „Die Winterreise“ haben wir schon eingespielt, es wird aber ein bisschen länger dauern, bis sie herauskommt.

Verändert die erzwungene Ruhe den Blick auf den hektischen Betrieb?
Auf jeden Fall. Ich mache mir diese Gedanken aber schon seit ein paar Jahren. Jeder Sänger, jeder Mensch hat seine eigenen Krisen. Ich habe wahrscheinlich ein paar Jahre lang viel zu viel gearbeitet. Deshalb habe ich meinen Kalender besser strukturiert, schon vor der Pandemie.

Wie wird sich die Pandemie auf den Betrieb auswirken?
Es werden neue Formate entstehen. Die Streamings und digitalen Möglichkeiten werden zum Teil bleiben. Gleichzeitig habe ich das Gefühl, dass das Live-Erlebnis wieder aufgewertet wird.

Wie wirkt sich ein leeres Haus auf Motivation und Stimmung des Sängers aus?
Ich habe sowohl positive als auch negative Erfahrungen gemacht. Im ersten Lockdown habe ich in Weimar für Arte einen Liederabend im Livestream gesungen. Es war schlimm, hinauszugehen in einen Raum mit fünf Kameras und ein relativ sphärisches Programm in einem Raum voller Technik vor TV-Publikum zu singen. Der "Figaro" in Wien, der heute Abend wieder im Stream der Staatsoper gezeigt wird, hat hingegen Spaß gemacht. Man spielt ja miteinander und nicht direkt für das Publikum. Mit Publikum ist es aber immer besser, weil Energie zurückkommt.

Wie schaut bei Ihnen die Balance zwischen Lied, Oper und Oratorium aus?
Für mich war es immer schon wichtig, eine Balance von 50:50 zwischen Lied und Oper zu halten, das Oratorium ist für mich der dritte Bereich. Es gibt immer Phasen, wo ich das Gefühl habe, Oper ist vielleicht doch eher meines, aber dann wieder das Lied. Ich denke, ich werde mich da nie entscheiden können.

Wie sehen Sie die beiden Zyklen Franz Schuberts, „Die schöne Müllerin“ und „Die Winterreise“ in Relation und in Bezug zu Ihrer Stimme?
Ich habe die „Müllerin“ relativ lange liegen gelassen, einfach, weil ich lange überlegt habe, ob das überhaupt etwas für mich wäre.

Warum?
Ich bin der Meinung, dass die „Müllerin“ von einem lyrischen Tenor gesungen mehr der Komposition entspricht. Jetzt hat meine Stimme noch eine gewisse Frische, das für die „Müllerin“ wichtig. Deswegen wollte ich das jetzt aufnehmen.

Die „Winterreise“ wird meist von alten Männern gesungen, obwohl der Protagonist zwar lebensmüde, aber jung ist, warum?
Man hört und liest immer, dass ein junger Mann der „Winterreise“ gar nicht gerecht werden kann. Das empfinde ich überhaupt nicht so. Ich denke, Reife hat nicht unbedingt etwas mit Alter zu tun.

Was zieht Sie zu Schubert hin?
Es ist schwer zu erklären. Es ist die Klangsprache, die mir im Moment am nächsten ist. „Müllerin“ und „Winterreise“ sind die „Lauberhornabfahrt“ und die „Streif“ des Liedgesangs. Und wenn man Lied-Sänger ist, kommt man an Schubert sowieso nicht vorbei. Ich finde es wahnsinnig interessant, dass bei Schubert die allertraurigsten Lieder immer in schönstem Dur geschrieben sind.

Wo sehen Sie das Potenzial Ihrer Stimme in Bezug auf das Opernrepertoire?
Es wäre langsam an der Zeit, den Posa in Don Carlo zu singen, das fände ich schön. Im deutschen Repertoire könnte ein Wolfram kommen, der nächste Schritt wäre dann eventuell Amfortas.

Wie entwickeln Sie Ihr Repertoire, mit einem Manager oder Gesangslehrer?
Im Idealfall hat man eine Agentur, die davon auch eine Ahnung hat und das habe ich zum Glück. Ich denke sowieso, dass alles zur richtigen Zeit kommen wird. Wenn ich sehe, was ich schon erreichen durfte, in welchen Häusern ich welche Partien gesungen habe, dann würde ich sagen, „wow“, hätte ich mir nicht gedacht.

Mozart steht für Sie in der Oper derzeit im Zentrum. Was ist für Sie das Schöne an seiner Musik?
Man braucht nur das Finale des zweiten Akts zu hören. Ich wüsste nicht, wo man sonst so eine Fülle an Ideen und Genialität in einer relativ kurzen Zeitspanne finden kann.

Sie haben den „Figaro“ mit Nikolaus Harnoncourt einstudiert. Wie hat Sie das geprägt?
Das war bestimmt die größte Erfahrung, die ich gemacht habe. Es hat den stärksten Einfluss auf mich ausgeübt und wird mir mein Leben lang bleiben.

Was war das Besondere an Harnoncourt?
Das Besondere war, dass dieser so erfahrene Mann immer das Neue gesucht hat. Oft ist es so, dass wir beim Arbeiten belehrt werden, wie es zu sein hat. Das war bei ihm überhaupt nicht so. Man hat gemeinsam nach der derzeitigen Wahrheit, die man auf die Bühne bringen will, gesucht. Er hat immer gefragt „Wie sehen Sie das?“ oder „Können Sie damit etwas anfangen?“ Das hat mir schon sehr gefallen, vor allem weil in der Opernwelt die Mündigkeit der Sänger leider nicht sehr großgeschrieben wird.

Weil sie von den Dirigenten und Regisseuren nicht geschätzt wird oder weil sie die Sänger gar nicht beanspruchen?
Beides, glaube ich. Es gibt einfach eine so große Menge an Sängern, dass man sich als junger Sänger nicht sehr viel erlauben darf. Es hat sich auch ein bisschen dahingehend entwickelt, dass wir die Ausführenden von Wünschen der Regisseure und Dirigenten sind. Natürlich gibt es immer Ausnahmen und ich habe in der Hinsicht auch sehr viel Glück gehabt. Aber ich sehe immer wieder, dass die Interpretation eines Sängers zweitrangig ist, dass man sie nur inoffiziell durchbringen kann. Wenige Sänger lassen sich heutzutage auf kontroverse Gespräche ein, wo wirklich Meinungen aufeinanderkrachen. Das habe ich schon lange nicht mehr erlebt.

Weil die Zeit und das Interesse nicht da sind?
Und weil man weiß, wer die Oberhand hat. Ich habe solche Situationen noch nie erlebt, aber die gibt es. Wenn es zu so einer Situation kommt, dann wird es in den allerwenigsten Fällen so sein, dass man zum Sänger steht und der Regisseur oder Dirigent ausgetauscht wird. Das wird nicht passieren.

Wie ist der Weg an die Wiener Staatsoper verlaufen?
Ich war von 2010 bis 2014 im Ensemble der Grazer Oper, seither arbeite ich freischaffend. Alles hat sich relativ natürlich ergeben. Zuerst kleinere und mittlere Häuser, dann kleinere Partien bei den Festspielen in Salzburg, mit "Così fan tutte" die erste größere Sache dort. Dann kam die Bayrische Staatsoper und dann Wien. Es gibt wahrscheinlich Kollegen, die diese Schritte wesentlich schneller absolviert hätten. Ich habe mich da oft selbst gebremst, aber ich glaube, dass das für mich der richtige Zugang war, weil ich sonst einfach nicht mitgekommen wäre.

Aber Graz sind Sie verbunden geblieben?
Ich lebe in Graz und das sehr gerne, habe hier eine Partnerin und Freunde und bin auch immer wieder in der Oper in Graz. Ich fühle mich hier sehr wohl und möchte auch nicht wegziehen!

Franz Schubert. "Die schöne Müllerin" erscheint am 5. März bei der Deutschen Grammophon.