Der Abend fing mit einem Witz an, und zwar keinem schlechten. Hausherr Aron Stiehl trat auf die Bühne und meinte, diese Veranstaltung erinnere ihn an einen Intendanten-Alptraum: "Es ist Premiere und im Saal nichts als Kritikerinnen und Kritiker." Die für die Mikrofone von Ö1, eine Handvoll Medienvertretern und natürlich die Künstler selbst abgehaltene Uraufführung wird vielleicht im Frühjahr noch dem Publikum gezeigt werden können. Es wäre nicht zu dessen Schaden.

Der Alptraum währte noch länger: Denn Regisseur Nigel Lowery zeigt Salvatore Sciarrinos nach Aischylos geformtes Atriden-Drama als nachtschwarzes Panorama der Verfluchten. Hinter einem Bühnenschleier vollzieht sich die von der Vorsehung und Göttern gewollte Tragödie zwischen Kriegsheimkehrer Agamemnon (Sciarrino-Veteran Otto Katzamier) , Königin Klytämnestra (Iris van Wijnen) und der Seherin Kassandra (Rinnat Moriah). Es ist ein sich in Zeitlupentempo bewegender Untergangsreigen der ans Schicksal geketteten Schemen und Larven, bebildert im Gothic-Horror-Stil, in dem der vermeintliche Sieger Agamemnon sinnigerweise schon im Leichenwagen in seine Heimat zurückkehrt. Der Komponist, der seine Libretti selbst einrichtet, ist ein Meister darin, die psychologische Innenwelt mit der Außenwelt zu verschränken, seine Musik stellt nichts dar, sondern versucht, innere Vorgänge nachvollziehbar zu machen. So wie seine Klänge die Natur nicht imitieren, sondern die Wahrnehmung von Klang zum Thema haben. Sciarrino macht gleichsam die Risse in der Welt ausfindig, vergrößert sie und lässt das verborgene Reale hinter den Dingen hervorquellen. Am Ende fallen die schwarzen Mauern von Agamemnons Palast, und sie geben den Blick frei auf ein Schlachthaus: Ein vor Blut dampfendes Szenario des Untergangs, zum Schlusschor, der seine ausführliche Klage über die Illusion des Glücks mit dem knappen Ausruf „Schmerz und Erbarmen“ beendet. Und den Betrachter dieses aus rätselhaften Gründen traurig werdenden Gesangs (so der Titel des Werks) in die Kälte entlässt.

Die Last der Tradition als Lust

Sciarrinos Genie zeigt sich auch in seinem neuesten Bühnenwerk. Während seine Dramenkonzeption den Widerspruch von „Innen“ und „Außen“ auflöst, hat er einen musikalischen Stil entwickelt, der die Barriere zwischen „Natur“ und „Kultur“ verwischt. Der Sprechgesang ist dem natürlichen Konversationston abgelauscht und angenähert, aber steckt doch voller Finessen und Arabesken, die Sciarrinos Musiktheater in die italienische Operntradition stellen: Monteverdis Madrigale und der späte Verdi geistern durch diese ziselierten Linien mit ihrem für Sciarrino typischen Crescendi und Descrescendi, ihrem Kontrast zwischen lang gehaltenen Tönen, Glissandi und unvermitteltem Gestolper. Getreu von Sciarrinos Überzeugung, dass nur der Wandel die Tradition erhalten kann, entspinnt sich in dieser Musik ein Dialog über Jahrhunderte und der Komponist verleiht alten Formen neuen Sinn: Die ständigen Wortwiederholungen der italienischen Oper werden in „Il canto s’attrista, perche?“ auch ein Zeichen dafür, dass diese Figuren nicht nur an ihr rätselhaftes Schicksal, sondern auch an ihre Sprache, an „ihre“ Sätze gebunden sind.

Der Komponist Salvatore Sciarrino 2020 vor dem Klagenfurter Theater.
Der Komponist Salvatore Sciarrino 2020 vor dem Klagenfurter Theater. © weichselbraun

Das von Tim Anderson dirigierte Kärntner Sinfonieorchester steuert die typische, statische Klangkulisse aus geräuschhaften, sich wiederholenden Partikeln und Motivzellen bei und führt das Ensemble, neben genannten noch Tobias Hechler als Wächter und Davide Giangregorio als Herold, sowie den wunderbaren Chor des Stadttheaters zu einer packenden, atmosphärischen Aufführung, die wert ist, für die Nachwelt festgehalten zu werden: Am 23. Februar wird die Ausstrahlung auf Ö1 erfolgen (19.30 Uhr). Ob sie in Kärnten auch gezeigt werden kann, hängt vom Virus ab, nächste Saison wechselt die Produktion ins koproduzierende Wuppertal.