Mit Jules Massenets „Thaïs“ hatte das Theater an der Wien einen Trumpf im Talon. Kein Wunder, dass das Haus Wege gesucht hat, die von Peter Konwitschny inszenierte Rarität trotz Corona irgendwie zeigen zu können. Nun sticht der Trumpf im Fernsehen: Heute, Sonntag, ist die Produktion in ORF III zu sehen.

Konwitschny gelingt eine Art Ehrenrettung für ein schwülstiges Fin-de-siècle-Drama. Der Regisseur entfernt all den orientalischen Pomp und Talmi-Glanz aus dem Stück um eine Luxusprostituierte, die von einem Klosterbruder auf den Pfad der Tugend gebracht wird. Konwitschny setzt dabei, wie schon in einigen seiner Arbeiten aus der jüngeren Zeit, auf Reduktion. Die Bühne ist meist fast leer, das obligatorische Ballett ebenso gestrichen wie einige ganze Szenen. Die Eindreiviertelstunde fokussiert sich ganz auf das ideologische und emotionale Duell zwischen der Titelfigur Thaïs und dem Mönch Athanaël. Ganz ähnlich wie in Konwitschnys „Traviata“-Inszenierung, die er in Graz und Wien gezeigt hatte, lenkt nur wenig von diesem Liebeskampf der beiden Figuren ab. Steht die verführerische Frau symptomatisch für ein oberflächliches, Luxus und Geld huldigendes Upper-Class-Elend, vertritt der Mann religiöse Weltabkehr und Entsagung. Der Moralist Konwitschny misstraut beiden Sphären zutiefst, und zeigt durch einen Kostümkniff, dass diese scheinbar konträren Welten und ihre Verdrängungsmechanismen eng miteinander verwandt sind: Denn alle Figuren tragen Engelsflügel. Für den Regisseur ausdrücklich kein positives Bild, sondern ein Symbol für die geschlossenen Gesellschaften, die sich hier gegenübertreten.

Mit dem Verlust der Flügel zur Mitte des Abends beginnt eine leidvolle Menschwerdung. Missverständnisse, Einsamkeit, zerschlagene Hoffnungen und die Forderung nach Opfern, das sind die Begleiterscheinungen, die das Menschsein nun einmal so mit sich bringt. Aber Konwitschny, der ewige Optimist wider Willen, lässt auch Momente der Hoffnung auf Erlösung zu. Auch wenn Erlösung und Verzweiflung in dieser Produktion nur schwer auseinanderzuhalten sind.

Gegen den Kitsch angegangen

Dass diese Menschwerdung leitmotivisch von der berühmten, schmalzigen „Meditation“ begleitet wird, ist einer der schwer aufzulösenden Widersprüche von „Thaïs“. Dass Massenet solch eminente Vorgänge mit bieder frömmelnder Musik unterlegt, ist hörend nur schwer zu verkraften. Was nicht heißt, dass Massenets Musik schwach ist: Der Dirigent Leo Hussain zaubert mit dem fabelhaften RSO Wien von Anfang an eine wunderbare Atmosphäre in den Theaterraum. Da wirkt nichts bombastisch, sondern farbig-poetisch, da ist alles kraftvoll, aber nicht kraftmeierisch. Und Hussain zeigt, was bei Massenet wahrlich nicht allen Dirigenten gelingt, nämlich dass diese Musik das Kitschige verliert, wenn man sie nur ernst genug nimmt.

Ganz fantastisch sind die beiden Sänger der Antagonisten. Josef Wagners opulente Stimme hat sich in nur wenigen Jahren zum sinnlichen Bassbariton entwickelt, der den Kantilenen Athanaëls sanfte Schönheit verleiht. Formidabel, mit warmen Farben und glänzenden Höhen, singt Nicole Chevalier die Thaïs. Beide Sänger bieten ausgefeilte, zu Herzen gehende Porträts. Die einzige weitere größere Rolle, die des Lebemanns Nicias, ist beim heldischen Charaktertenor von Roberto Saccà bestens aufgehoben.

Ein Pflichttermin für Opernfreunde, heute um 21.30 Uhr.