Im Grazer Kammermusiksaal saß 1948 ein Bürschchen im vom Vater geliehenen Frack am Klavier und spielte bei seinem Konzertdebüt Brahms, Liszt und eine eigene Sonate mit Doppelfuge. Da war er 17. Ob es ihm am Dienstag möglich war, das zu tun, was er zu seinen Geburtstagen am liebsten tut? Von seinem Haus in London-Hampstead „aufs Land ziehen und mich verbergen“. Alfred Brendel ist 90.

Beim Verbergen mit dabei waren neben Brendels deutscher Frau Irene Semler wohl auch die drei gemeinsamen Kinder Katharina, Sophie und Adrian, der sich als Cellist einen internationalen Namen gemacht hat. Und vielleicht auch Doris Brendel, hervorgegangen aus der ersten Ehe des Meisterpianisten mit der Argentinierin Iris Heymann-Gonzala, sie ist Pop- und Folksängerin.

Sein Alter nimmt Brendel schon lange mit Humor: „Ich finde vieles komisch. Das hilft. Anders kann man die Welt doch gar nicht aushalten“, findet der Herr mit der Runzelstirn und dem Augenzwinkern, der als Lieblingsbeschäftigung „Lachen“ nennt, sich aber trotzdem nicht als Optimisten sieht.

Die Auswirkungen von Corona auf das Konzertleben findet er erschreckend, wie er der Deutschen Presse-Agentur kürzlich sagte. Dabei betrifft es ihn direkt gar nicht mehr. Denn er gab Ende 2008 sein letztes öffentliches Konzert, „eine Erleichterung zwar, aber es freute mich natürlich, als das Publikum über meinen Abschied jammerte“. Zudem kann Brendel nach einem Hörsturz 2012 just Klavierklänge nur noch verzerrt wahrnehmen. Vor der Pandemie habe er gern Musiker daheim in London empfangen, wo er seit 1972 lebt, zuletzt jedoch – wie alle anderen auch – Aufführungen nur noch vor dem Fernseher genießen können. „Das ist zwar gut, aber natürlich sehnen wir uns trotzdem alle nach der Körperlichkeit eines Konzerts – dabei zu sein, drin zu sein, die gleiche Luft zu atmen, das Risiko ebenso mitzuerleben wie das Gelingen.“

"Ein Pianist ist ein zehnfingriges Orchester“, brachte es Hans von Bülow, selbst ein großer Klaviervirtuose des 19. Jahrhunderts, einmal sehr schön auf den Punkt. Bis zu seinem Bühnenabschied mit den Wiener Philharmonikern unter Charles Mackerras war Alfred der Große eines der zehnfingrigen Paradeorchester unserer Zeit. Paradoxerweise ist bei ihm jedoch „Ein Finger zu viel“ – jedenfalls, wenn man dem Titel eines seiner Gedichte glaubt, „die eines Tages einfach auf mich zukamen und mich überraschten“.

Brendel, der Shakespeare und Rembrandt, Musil und Schnitzler, Buñuel und Charms genauso liebt wie Bach und Haydn, Mozart und Beethoven, Schubert und Schönberg, ist auch an der Tastatur das, was er an den Tasten war: ein tiefgängiger Philosoph und gewitzter Weltbetrachter zugleich, der auch „die Schönheit des Unsinns und die Tugend der Nonkonformität“ schätzt, wie er im Interview in der letzten Ausgabe der „Zeit“ betont. Diese bewies Alfred Brendel nicht nur, als er in den 1950ern eine Babyschildkröte am Seidenband am Publikum vorbei durch den Wiener Musikverein spazieren führte.

Voll Musik, Geist und Witz: Alfred Brendel
Voll Musik, Geist und Witz: Alfred Brendel © APA