Bewertung: ****


Titan tragen nicht nur Sci-Fi-Cyborg-Superhelden in sich. Auch die französische Tänzerin Alexia hat seit einem Autounfall als Kind eine Titanplatte im Kopf. Die Folge ist ein Metall-Fetisch, der durchaus konkret wird. Gleich zu Beginn des Genrefilms von Julia Ducournau verbringt die Hauptfigur eine folgenreiche Nacht mit einem glänzend polierten Cadillac. Diese Schlüsselszene ist noch nicht das Seltsamste am wilden Gewinnerfilm der Goldenen Palme von Cannes 2021, der nur auf den ersten inhaltlichen Blick an den ebenso verrückten „Crash“ von David Cronenberg erinnert.
Nach einem Übergriff durch einen Mann wird Alexia mit ihrer metallenen Haarnadel zur Mörderin. Der Film mutiert dadurch kurz zum tödlichen Thriller, bevor er in die trotzdem nicht sehr ruhige Bahn eines ungewöhnlichen Familiendramas findet. Alexia muss nämlich untertauchen und nimmt die Identität eines verschollenen jungen Mannes namens Adrien an. Sie bindet sich die Brüste ab, rasiert sich die Haare und bricht sich selbst die Nase. Der vermeintliche Vater, Feuerwehrhauptmann Vincent, nimmt seinen verlorenen Sohn bei sich auf der Wache auf. Er ist emotional ordentlich verknotet und trotz seines Alters noch übertrieben viril unterwegs. Langsam finden er und der androgyne Adrien eine Verbindung, die für beide zur kathartischen Eltern-Kind-Erfahrung wird. Doch unterdessen wächst in Alexia etwas heran, das die Geschlechterrollen nur noch mehr durcheinanderwirbelt.
Mit neon- und chromfarbenen Bildern und poppig-bunter Musik bleibt Ducournau nah an ihrer wortkargen Protagonistin, die nicht weiß, wie ihr geschieht. Eine Erfahrung, die das Publikum mit ihr teilt. Die feministische Magazin-Redakteurin Agathe Rouselle gibt sich in ihrem Schauspieldebüt diesem herausfordernden körperlichen Trip voll und ganz hin. „Titane“ ist energiegeladenes Körperkino für das ansonsten allzu oft kopflastige Arthouse-Segment.


Geadelt durch den Preis in Cannes, kann der französische Oscarkandidat seine humorvolle Wirkung vor breitem Publikum voll entfalten. Intelligente Themen und Allegorien finden sich in „Titane“ unterdessen genug, gar nicht so tief vergraben, aber immer im erklärungsarmen Genre-Gewand: von Missbrauch und Übergriffigkeit bis hin zur queeren Auflösung von Sex und Gender.


Es ist aber der taktile Zugang, die filmisch spürbaren Kontakte von Fleisch und Metall, Blut und Öl, die das Kinopublikum unmittelbar packen, und zwar in der Gegend weit unterhalb des metallfreien Kopfes. Ein herrlich bizarrer Spaß!