Bewertung: *****

Cassie wohnt wieder bei ihren Eltern. Aber die Studienabbrecherin führt ein Doppelleben: Tagsüber jobbt sie in einem Café, nachts geht sie auf die Pirsch. Einmal in Bleistiftrock und High Heels in schicken Bars, einmal als Hipster mit bunten Zöpfchen in abgewrackten Klubs jagt die 30-Jährige wahllos Männer.
Ihre Masche: Sie schminkt sich verschmierte Lippen und Augen und gibt vor, sturzbetrunken oder high zu sein. Sie sehe aus wie „ein heißes Häufchen Elend“, formuliert es einer. Die Preise der Lokalitäten mögen variieren, die Einfallslosigkeit der Abschleppversuche nicht.
Cassie lässt sich ansprechen und von den sogenannten Gentlemen auf wackeligen Beinen nach Hause bringen. Auf dem Weg fällt denen gerne ein, sie noch auf einen Absacker mit hoch zu nehmen und Richtung Schlafzimmer zu bugsieren. Aber: Cassie erteilt ihnen eine Lektion, die sie so schnell nicht vergessen. Der Grund für ihren akribisch notierten Rachefeldzug ist ein trauriger: ihre beste Freundin Nina galt einst wie sie an als „Promising Young Woman“. Eine Vergewaltigung warf die Medizinstudentin aus der Bahn, sie verübte Suizid, während die Vergewaltiger Karriere machten. Denn: War sie nicht auch betrunken an dem Abend? Langsam kreist Cassie die Täter und Mitwissenden ein. Sie alle sollen büßen.


Die Rache im Regiedebüt von Schauspielerin („The Crown“) und Drehbuchautorin („Killing Eve“) Emerald Fennell ist bittersüß, grell, überzeichnet, böse und tiefschwarz. Für ihr kluges, pointiertes und wendungsreiches Drehbuch wurde die Britin völlig zu Recht mit einem Oscar ausgezeichnet. Vielfach als #MeToo-Film angepriesen, ist „Promising Young Woman“ viel mehr als das: Es übt konsequente Gesellschaftskritik an Sexismus im Alltag, an toxischen Geschlechterklischees und an der Verharmlosung, Verleumdung und Täter-Opfer-Umkehr von Übergriffen. Emerald Fennell mixt Genres wie Thriller, Satire, Psychogramm, Lovestory und Horrorfilm ganz selbstverständlich und zuckert den Film mit einer ordentlichen Portion 90er-Pop (Britney Spears), Tumblr-Ästhetik und bissigem Humor. Egal, wie man diese Rachegeschichte für sich selbst interpretiert, am Ende bleibt einem ohnehin – ohne zu spoilern – die Luft weg.


Carey Mulligan brilliert als eingeschüchterte, vulnerable junge Frau und als tougher abgebrühter Racheengel in der bis dato Rolle ihres ungemein vielschichtigen Schauspielerinnenlebens. Dass ein „Variety“-Journalist ihr nicht genug Sex-Appeal für diese Rolle zumutete, zeigt, wie dringend es so einen Film in genau dieser vielschichtigen Machart 2021 noch braucht.