Ein bisschen bleiben wir noch

Bewertung: ****

Arash T. Riahis neuer, auf Festivals bereits prämierter Film „Ein bisschen bleiben wir noch“ setzt dort an, wo die Zukunft der Protagonisten in diesem Land wackelt: bei einem Besuch der Polizei. Die Familie soll abgeschoben werden. Daraufhin versucht sich die psychisch labile Mutter (Ines Miro) das Leben zu nehmen. Oskar (Leopold Pallua) und Lilli (Rosa Zant) hauen ab, werden aufgegriffen und landen bei getrennten Pflegefamilien, die Abschiebung ist vorerst verschoben.

Der Regisseur erzählt die Geschichte über den Wunsch nach Anerkennung und einer Heimat durch die Augen der Kinder ohne stetes Betroffenheitspathos. Das und die betörende Ensemble-Leistung machen diesen Film, dessen Drehbuch auf dem Roman „Oskar und Lilli“ von Monika Helfer beruht, so besonders und berührend. Herzerwärmend, situationskomisch und mit Fingerspitzengefühl zeichnet Arash T. Riahi die Überlebenstricks voller Vitaminzuckerln, Smileys und Briefen an die Mutter nach, in denen Oskar vorgibt, glücklich zu sein.

Die Bitterkeit der Nichtzugehörigkeit wird nicht ausgespart. „Die Käfer sind wie Ausländer, die dürfen gar nicht hier sein“, sagt Oskar einmal. Und immer wieder taucht diese Szene auf: Oskar und Lilli stehen mit offenem Mund und himmelwärts gerichtetem Blick da. Dazu die Worte: „Wenn man den Mund lange offen lässt, können die Sorgen vielleicht aus einem rausfliegen.“

The Trial of the Chicago 7

Bewertung: ****

Fünf Wochen vor der Präsidentschaftswahl bringt Netflix den perfekten Film zur aufgeheizten Stimmung in den USA zwei Wochen vor Online-Start ins Kino. „The Trial of the Chicago 7“ ist ein Ausflug in die Zeit des u. a. durch den Watergate-Skandal umstrittenen US-Präsidenten Richard Nixon. Sein Justizminister ließ acht Demo-Organisatoren vor Gericht stellen, die im Wahlkampf gegen den Vietnam-Krieg mobilisierten. Regisseur und Drehbuchmeister Aaron Sorkin erzählt die brandaktuelle Geschichte von Protest und Polizeigewalt dicht und spannend als klassisches Gerichtsdrama mit sparsamen Rückblenden und genialem All-Star-Ensemble. Die Jahre 1968/69 werden zum Spiegel der Gegenwart. Bruchlinien unter den Protestierenden kommen ebenso zum Vorschein wie Grundrechtsverletzungen der Mächtigen. Die Geschichte wiederholt sich zwar nicht, aber in diesem Film reimt sie sich genial.

On the Rocks

Berwertung: ****

Sie sind wieder vereint: Bill Murray und Sofia Coppola. 17 Jahre nach ihrem famosen Leinwandhit „Lost in Translation“ über zwei Gestrandete in Tokio hat die Regisseurin die Zusammenarbeit fürs Kino fortgesetzt. Bill Murray verkörpert den reichen, redseligen Dandy, der sich von seinem Chauffeur durch New York kutschieren lässt, charmant. Als seine Tochter Laura (Rashida Jones) glaubt, dass ihr Mann eine Affäre hat, fragt sie Daddy um Rat. Der ist sich sicher, dass sie betrogen wird, das sei ein „Ur-Instinkt“. Bald folgen die beiden dem vermeintlichen Fremdgeher bis nach Mexiko und definieren dabei ihre Beziehung neu. An den Kultfilm kommt „On the Rocks“ nicht heran. Dennoch: hinreißende Dialoge, liebenswürdige Figurenführung und eine Liebeserklärung an eine Stadt, die aktuell brachliegt.

Die Misswahl  - Der Beginn einer Revolution

Bewertung: ***

Die Miss-World-Wahl 1970 in London schrieb Geschichte: in doppelter Hinsicht. Mit Jennifer Hosten wurde die erste Schwarze gekrönt und eine legendäre Protestaktion, live im TV übertragen, schob die Feminismus-Bewegung an. Philippa Lowthorpe erzählt im unglücklich ins Deutsche übersetzten charmanten feministischen Feelgood-Film „Die Misswahl – Der Beginn einer Revolution“ („Misbehaviour“) von der Wut der Frauen, dem chauvinistischen Blick auf ihre Körper, persönlichen Kämpfen und Rassismus. Keira Knightley verkörpert Studentin Sally, die zur Rädelsführerin einer Aktivistinnengruppe wird und sich mit der unerschrockenen Jo (Jessie Buckley) anfreundet. Derweil glaubt Hosten (famos: Gugu Mbatha-Raw) nicht, dass sie sich am Ende die Krone aufsetzen darf. Nicht immer tiefschürfend, aber gut gemacht.

Enfant Terrible

Bewertung: ***

Rainer Werner Fassbinder war der wichtigste Regisseur Westdeutschlands. Als er 1982 mit nur 37 Jahren starb, hatte er mehr Filme als Lebensjahre hinter sich. Sein Lebensmotto: „Viele Filme machen damit mein Leben zum Film wird“. Das nimmt nun ein anderer Provokateur wörtlich. Oskar Roehler legt mit „Enfant Terrible“ ein ebenso eigenwilliges wie schonungsloses BioPic vor. Als theaterhaftes Studio-Kammerspiel in grellbuntem Licht nehmen er und der starke Hauptdarsteller Oliver Masucci vor allem die manisch-depressiven Persönlichkeit Fassbinders ins Visier. Dass der bayrische Weltregisseur kein Kind von Traurigkeit war, ist bekannt. Im Film schreit er es seiner Filmfamilie entgegen: „Einer muss hier das Arschloch sein.“ Im konservativen Mief der „bleiernen Zeit“ aufgewachsen, hielt er der Wirtschaftswunder-BRD auch im deutschen Herbst den Spiegel vor, kettenrauchend und in Leopardenanzug und Lederjacke. „Enfant Terrible“ erweist ihm nun ehrlich die Ehre.

Gott, du kannst ein Arsch sein

Bewertung:***

Wie kann Gott zulassen, dass ein junger Mensch mitten aus dem Leben gerissen wird? Steffi (Sinje Irslinger) hat gerade ihren Schulabschluss gemacht und freut sich auf die Zukunft: Führerschein machen, eine Ausbildung bei der Polizei und einen romantischen Paris-Aufenthalt mit Langzeitfreund Fabi (Jonas Holdenrieder). Doch eine Krebsdiagnose ändert alles. Selbst wenn die 16-Jährige sofort mit der Chemotherapie beginnt, hat sie nur noch wenige Monate zu leben. Gemeinsam mit Zirkusartist Steve (Max Hubacher) klaut sie ein Auto und bricht zum Roadtrip ihres Lebens auf. André Erkau („Happy Burnout“) verzichtet bei seiner „Todkrankes Mädchen trifft Traumboy“-Story auf sentimentale Überdramatisierung und gibt dem Sterbedrama trotz aller Tragik einen lebensbejahenden Spin. Heike Makatsch und Til Schweiger werten nicht nur die Besetzungsliste auf, sondern sorgen als Steffis verzweifelte Eltern für tiefgründige Momente.