Sie haben in Wien einmal den „Lenz“ von Wolfgang Rihm inszeniert, in Bayreuth den „Ring“ – lauter eher tiefgründige Stücke. Nun Charles Gounods „Faust“, dem in deutschen Sprachraum noch immer eine Trivialisierung eines deutschen Klassikers vorgeworfen wird. Was hat sie an diesem Stück überhaupt gereizt?

FRANK CASTORF: Die Premiere war ja schon 2016 in Stuttgart. Für mich war es eine Vorbereitung für etwas, was doch etwas tiefgründiger ist, den „Faust“ von Goethe, den ich danach als Abschlussinszenierung an der Berliner Volksbühne machte. Vielleicht war es ja sinnvoll, dass man die Oper in Deutschland früher „Margarethe“ nannte, nicht nur, damit die Verachtung für das Stück nicht ganz so gewalttätig ausfällt, sondern auch, weil Marguerite die zentrale Figur ist. Goethes „Faust“ ist ein enzyklopädisches Meisterwerk, an dem er sein Leben lang gearbeitet hat. Das kann einen erschlagen.

Im Vergleich dazu ist Gounods „Faust“ sehr einfach gestrickt.

Bei Goethe steckt viel dialektisches Deutschtum drinnen. Was hält die Welt im Innersten zusammen? Und die Kraft der Negation, des Teufels, ist eigentlich die Macht, die immer wieder historischen Fortschritt schafft. Den Ausgang des Kampfs um die Seele des Faust kann man ja verschieden interpretieren. Gounod hat dagegen Aspekte von Trash. Für mich ist Marguerite die Hauptfigur, eine Halbweltdame wie bei Baudelaire oder später Émile Zolas Nana, bei uns ist vielleicht auch die Subproletarierin, die mit den Händen arbeitet, aber da herauswill. Wenn man von unten kommt, kann man sich nicht alles aussuchen. Nana nutzt ihren Körper, um da rauszukommen. Man kann da aus heutiger Perspektive mit einem anderen emanzipatorischen Wissen darüber den Kopf schütteln. Aber bei Balzac und Hugo entfalten gerade diese Halbweltdamen eine ungeheure Attraktivität und Kraft. Bei Gounods Marguerite ist es auch so.

In Ihrer Inszenierung ist Marguerite ja so „eine Frau mit Vergangenheit“.
Es gibt in dieser Zeit die Metapher der Hure, die die Ware ist, die sie verkauft. Bei Gounod ist das durch seinen Katholizismus gebrochen, aber darunter steckt eine ungeheure erotische Aufladung, auch durch die Stadt, die bei uns im Bühnenbild gezeigt ist. Wenn Heimat und Straße zusammenfallen, hat man das Warenhaus, wo man kaufen, kaufen, kaufen kann. Wir haben auch Rimbauds Gedicht „Demokratie“ eingebaut, wo es heißt „in den Städten werden wir nähren die zynische Prostitution“. 

Aber Marguerite wird am Ende doch errettet?
Natürlich wird sie Faust und ihre Liebe nicht verraten. Aber sie ist stolz auf ihr diesseitiges Leben, dieser emanzipatorische Ansatz ist interessant. Der Trash, das Einfache, das haben wir in der Inszenierung. Etwa der Mephisto, der in der U-Bahn-Station „Stalingrad“ eine Ausgabe von „Paris Match“ mit einem Foto von der Bardot anschaut. Faust wünscht sich nicht das Wissen, sondern das diesseitige, sinnliche Leben. Das bietet Mephisto ihn an. Dieses Zupackende, das Einfache an der Geschichte gefällt mir, der Charme der Oberfläche und die Musik erinnert mich an Offenbach und Strauß. Bei Gounod frage ich mich beim „Soldatenchor“, ob das noch affirmativ gemeint ist, oder schon die Kritik.

Sie machen das Paris um 1860 zum Thema, aber auch das Paris 100 Jahre später. Zeiten, die für sie stark zusammenhängen?
Absolut. Paris ist bis heute von sozialer Ungleichheit zerrissen. Als Ostdeutscher war für mich Paris immer das Synonym für Freiheit. Naja, „Freiheit“ gibt es real manchmal, „Gleichheit“ selten, „Brüderlichkeit“ im Grunde nie. Das gilt bis heute, Paris ist wie ein Brennglas.

1860 ist die eine erste Hochblüte des Kapitalismus, eine sehr materielle Welt, aber es gibt doch ein dialektisches Verhältnis zum Kapitalismus, weil Marguerite ja diese materielle Welt als Aufstiegsmöglichkeit erkennt.
Sie trifft einen attraktiven Mann, der ihr alles bieten kann, das verändert sie. Denken Sie nur an Coco Chanel, eine Frau, die von ganz unten kam und die Welt geprägt hat. Die Mode, das ewig Neue, wird damals ja auch interessant, ein industrieller Weltartikel, eine Staffage unseres Wohlfühlens. Für Marguerite wird sich dieses Leben gelohnt haben, sie wird sich ihren Anteil am Kuchen der Welt herausgebissen haben. Bei Heiner Müller heißt es in „Der Auftrag“: „jetzt will ich sitzen, wo gelacht wird und wo über euch gelacht wird, die nie die Kraft haben werden, die Welt zu verändern.“ Frauen wie Marguerite haben eine neue Qualität, die sind mir sehr sympathisch.

Der Teufel versorgt Faust mit Sinnenreizen und Waren, er ist ja auch ein Händler. Das heißt, er ist ein sehr moderner Typ.

Ein Ermöglicher, der das Glück der Zukunft verkauft: Du kannst es sofort haben, wenn du mich besuchst. Ich denke da etwa an den Hollywood-Produzenten Harvey Weinstein, der revolutionäre Filme produziert hat und doch einen teuflischen, destruktiven Schatten hatte. So ein Typ ist auch Mephisto: ein Ermöglicher, und alles, was er ermöglicht, geht zu Kosten von dem, was wir Moral nennen.

Wenn man das weiterdenkt, könnte man dann sagen, dass unsere Wohlstandswelt einen diabolischen Zug hat?

So ist es. Der berühmte Wirtschaftsökonom Karl Marx hat völlig naturwissenschaftlich den Zustand der Produktionsverhältnisse analysiert, die Verkaufswelt aus Waren und Entfremdung. Auf denen baut die Welt heute mehr denn je auf. Diese Verhältnisse können anscheinend alles ursupieren, selbst das Klima. Auch das Klima ist ein Warenfaktor, der sich irgendwann gut verkaufen lassen wird. Da kann man sagen, dass das Böse mit dem Guten eine Synthese eingegangen ist. Viele Opfer dieses Systems werden gewaltsam auf Veränderung drängen. Ab und zu braucht es Revolutionen, um die Welt besser zu machen. Revolutionen sind Maschinen der Geschichte. Ich glaube, dass Marx' Analyse bis heute bestehen bleibt und ich bin überzeugt, dass sehr viele Banker Marx nicht nur gelesen, sondern auch verstanden haben.



Als Theaterregisseur zählen sie zu einer Generation, die den Materialcharakter von Texten betone. die sich auch als Mitautoren verstehen. Nun zieht die Oper durch die Musik viel strengere Grenzen. Wie gehen Sie mit solchen Beschränkungen um?

Mit fröhlicher Demut. Man kann die Musik belassen und die Interpretationsnotwendigkeit eines Kunstwerks wo andershin verlagern. Auf der einen Seite ist alles, wie es immer war, auf der anderen Seite hat man den surrealen, albtraumhaften Überbau. Das ergibt Reibungsflächen. Ein deutscher Regisseur, eine brasilianische Kostümbildnerin, ein serbischer Bühnenbildner, ein französischer Dirigent, da treffen die merkwürdigsten Menschen aufeinander und stellen sich diesen Gegebenheiten von Kunst. Aber natürlich gibt es hier viel weniger Veränderungsbedarf, als wenn man die „Dämonen“ von Dostojewski machen würde, die ja einen Monat Aufführungszeit brauchen würden – das würde mich gar nicht stören. Aber Oper ist eine Frischzellenkur für mich.

Sie machen aber auch gerade viel Theater in Wien, etwa Peter Handkes neues Stück „Zdeněk Adamec“ für das Burgtheater.

Der hätte jetzt Premiere haben soll, der kommt im Herbst. Diese Wochen beginnen die Proben zum neuen Stück von Elfriede Jelinek fürs Akademietheater. Beide Premieren sollen Anfang Herbst sein. Dann werden wir hoffentlich wieder in eine etwas fröhlichere Zeit starten.

Nicole Car (Marguerite) und Juan Diego Flórez (Faust)
Nicole Car (Marguerite) und Juan Diego Flórez (Faust) © Staatsoper/Pöhn