Johan Simons hat am Burgtheater Shakespeares "Richard II." inszeniert, die Premiere war für den Herbst geplant. Dann kam der Kultur-Lockdown – und mit ihm etliche Terminverschiebungen. Unlängst gab es zwei Vorpremieren in Bregenz. Und nun endlich: Premiere in Wien, 4. Mai. Allerdings im Live-Stream – und der ist, sagt der Regisseur, eben "keine Live-Kunst". Und dennoch lohnt es, sich mit diesem König zu befassen, argumentiert Simons im Interview.

Herr Simons, bei Shakespeare tummeln sich grandiose Königsfiguren: Macbeth, Lear, Richard III., Heinrich V. Warum haben Sie sich den minderen König Richard II. ausgesucht?
JOHAN SIMONS: "Richard II." ist das introvertierteste Drama von Shakespeare. In vielen seiner Stücke gibt es Szenen, in denen er die Leute Spaß haben lässt. Das ist bei "Richard II." überhaupt nicht der Fall. Es geht immer nur um ihn und um die Leute, die ihn umgeben. Das ist für mich eine sehr enge Familiengeschichte.

Mit Mord und Totschlag.
JOHAN SIMONS: Richard hat nur einen Mordauftrag auf seinem Gewissen. Sein Gegenspieler Bolingbroke, der fähiger ist, König zu sein, hat natürlich – das erfährt man erst am Ende – von Anfang an viele Tote zu verantworten. Das gehört bei Shakespeare anscheinend zum Prinzip der Macht. Sie zu haben, macht es schwierig, sich nicht korrumpieren zu lassen. Ich weiß das, weil ich selbst schon lange Intendant bin. Und das ist eine Frage, die man sich in so einer Position stellen muss: Inwieweit bin ich meines Berufs würdig? Inwieweit bin auch ich ein Diktator?

Oder ein schlechter König?
JOHAN SIMONS: Ich möchte gern ein guter König sein. Richard ist anscheinend nicht fähig, zu regieren. Sein Drama ist es, dass er als Zehnjähriger König geworden ist. Er kennt nur die Königsrolle. Deswegen ist es bei ihm auch keine Rolle mehr: Er ist der König. Und er sagt das auch einige Male in dem Stück: Ich bin von Gott zum König vorbestimmt. Du kannst mich absetzen, aber ich bleibe der König. Weil Gott mich dazu berufen hat. Er glaubt, die königliche Aura lasse sich nicht ausknipsen. Ja, und er kann mit seiner Absetzung natürlich nicht umgehen. Sobald er nicht mehr König ist, kommt er in eine Identitätskrise. Er ist als Mensch fast nicht mehr da, hört auf zu existieren.

Und deswegen kann er nur narzisstisch agieren? Haben Sie deswegen mit Jan Bülow einen sehr jungen Schauspieler für die Rolle ausgesucht?
JOHAN SIMONS: Ja. Wegen Richards Trauma. Shakespeares andere Könige sind sich ihrer Rolle bewusst. Aber davon hat Richard keine Ahnung. Wie soll man auch selbstreflektiert sein, wenn man schon sein ganzes Leben lang König ist?

Im Weltgeschehen hatten wir es bis vor Kurzem mit einem ähnlichen Narzissten zu tun.
JOHAN SIMONS: Also Sie meinen diesen Trump? Richard ist nicht Trump. Die Fähigkeit zur Selbstreflexion, Richards tiefe Menschlichkeit, die traue ich dem ehemaligen amerikanischen Präsidenten nicht zu. An Trump hat sich bei der Amtsübergabe sehr deutlich gezeigt, was passiert, wenn jemand in einer solchen Position die Trennung von Amt und Person nicht anerkennt. Das wird zu einem ernsten Problem für die demokratischen Institutionen. Unsere Auffassung davon, wie Herrschaft funktioniert, liegt seit Jahrhunderten in der Fähigkeit begründet, diese Unterscheidung zu treffen. Das geht zu Shakespeares Zeit los, dass das wichtig wird. Aber Trump ist nicht das einzige Beispiel, das wir nennen könnten. Es gibt nicht wenige Regierende um uns herum, die ein vormodernes Verständnis von Herrschaft haben und demokratische Standards untergraben.

Die Frage, die das Stück auch stellt, lautet: Was legitimiert eine Regierung?
JOHAN SIMONS: Bei Shakespeare korrumpiert Macht unbedingt und immer. Und das ist natürlich auch meistens so. Ich kann nicht sagen, dass ich als Intendant immer sauber regiere. Ich versuche es, aber man steht an der Spitze der Hierarchie und trifft manchmal Entscheidungen, die nicht bei allen Leuten gut ankommen.

Sprechen Sie von künstlerischen Entscheidungen?
JOHAN SIMONS: Von Managemententscheidungen. In der künstlerischen Arbeit würde ich eine Schauspielerin oder einen Schauspieler nie dazu zwingen, meine Sache zu tun. Ich werde immer versuchen, die Leute mit Argumenten zu überzeugen. Ich bin der Meinung, dass Theater immer eine Zusammenarbeit aller ist. Meine Idee ist nicht immer die beste Idee – die kann genauso gut vom Beleuchter kommen. Natürlich muss ich den besten Kurs entscheiden. Aber ich versuche dabei, allen zuzuhören.

Sie haben sich viel mit Shakespeare beschäftigt in den letzten Jahren. Warum?
JOHAN SIMONS: Weil ich jetzt imstande und fähig bin, Shakespeare zu verstehen. Ich habe früher auch schon Shakespeare gemacht, aber da waren Arbeiten dabei, die einfach scheiße waren, völlig daneben. Sodass man denkt: Ach Gott, hör auf, Regie zu führen.

Zum Beispiel?
JOHAN SIMONS: Der "King Lear", den ich vor sechs Jahren in München gemacht habe. Oder "Othello", das war auch Mist. Aber das hat mich natürlich getriggert: Was ist das? Warum mache ich Shakespeare nicht so, wie ich es mir selbst wünsche? Und daraus ist dann für mich eine Hassliebe geworden zu ihm. Ich finde seine Sprache fantastisch, aber die Frauenrollen sind Dreck. Nicht alle, aber viele. Damit habe ich gekämpft. Deswegen habe ich auch Sandra Hüller Hamlet spielen lassen.

Nicht das erste Mal, dass Hamlet von einer Frau dargestellt wird.
JOHAN SIMONS: Aber es war ein Hamlet aus einer anderen Perspektive. Hamlet wird meistens mit viel Zynismus umgeben, und Sandra Hüller möchte als Hamlet keine Sekunde zynisch sein. Das ist nicht einfach, aber das hat sie geschafft. So ging es nun um Hamlet selbst: Ich, Hamlet, weiß nicht, wie ich leben muss. Alles schmerzt mich, ich bin eine offene Wunde. So habe ich allmählich entdeckt, wie interessant Shakespeare für mich sein kann. Man muss sich zu Shakespeare verhalten, auch kritisch verhalten. Man muss nicht alles glauben, was er sagt.

Apropos Frauen: Richards Gegenspieler Bolingbroke wird bei Ihnen von Sarah Viktoria Frick gespielt.
JOHAN SIMONS: Ich möchte, dass eine Frau an die Macht kommt. Das war mir wichtig. Wenn das von einem Mann gespielt wird, kennt man das. Aber mit einer Frau ist das interessant. Bolingbroke wird für mich während des Prozesses mehr und mehr zum Raubtier. Sie ist klug, wartet ab, bis das Opfer still sitzt. Und dann schlägt sie zu.

Stichwort still sitzen. Das Theater in der Coronasaison: Machen Sie sich Gedanken, nicht nur als Künstler, sondern auch als Theatermanager, über die mittel- und langfristigen Folgen dessen, was wir gerade erleben?
JOHAN SIMONS: Ich weiß nicht, was die Zukunft bringt, aber ich hoffe, dass sie die Legitimität des Theaters nicht infrage stellt. Weil Theater wertvoll ist und bleiben muss. Für mich ist es eine sehr moderne Kunstform. Würde Bolingbroke in einem Film von einer Frau gespielt, wäre das viel schwieriger als auf der Bühne. In einem Film wird das unglaubwürdig. Das Schöne am Theater ist, dass es über Behauptungen funktioniert, die man glaubt, wenn es gut gemacht ist. Damit ist Theater immer eine Befreiung.

Weil es eine Vereinbarung gibt, dass man solche Grenzen überschreiten kann?
JOHAN SIMONS: In Bochum wurde Hamlets Mutter von einer schwarzen Frau gespielt: Am Theater fragt sich heute niemand, ob das möglich ist: Da ist es möglich. Das war vor 20 Jahren noch anders. Daran kann man auch sehen, dass Theater sich von Konventionen befreien kann.

Sie sagen, die Legitimität des Theaters darf nicht angetastet werden – de facto wird sie aber angetastet, weil nicht gespielt werden darf …
JOHAN SIMONS: Ich verstehe auch nicht, wie man in Holland etwa die Museen sperren kann und Ikea voll mit Leuten ist. Obwohl die Museen weit sicherer sind. Was das anlangt, leben wir in einer neoliberalen Zeit, in der das Geldverdienen wichtiger ist als die Kunst.

Was sagen Sie denn zu den digitalen Alternativen der Künste?
JOHAN SIMONS: Das kann und soll man natürlich machen. Aber was im Netz passiert, ist keine Live-Kunst.

Wenn man mit Leuten spricht, die das Theater lieben, ist die Aussage immer dieselbe: Okay, dass man das ersatzhalber macht. Aber es zeigt eigentlich nur umso deutlicher, wie sehr wir das Theater vermissen.
JOHAN SIMONS: Wie sehr das fehlt, ja.

Weil uns die Künste immer Antworten auf die grundlegenden Fragen geben müssen: Wird das alles gut enden?
JOHAN SIMONS: Davon gehe ich aus. Es kann lange dauern. Aber ein Leben ohne Theater ist für mich unvorstellbar. Oder unmöglich. Das Theater steht immer wieder auf, weil Leute zusammenkommen und gemeinsam zuhören möchten. Die Leute brauchen Geschichten. Philipp Blom hat über Europa gesagt, wir brauchen eine gemeinsame Geschichte. Und da kann Theater wirklich viel dazu beitragen. Ich habe in Bochum ein Ensemble mit 11 verschiedenen Nationalitäten. Dass das möglich ist, hätte man vor 10 Jahren nicht geglaubt. Aber das Schöne ist, dass das Theater immer ein Spiegel der Gesellschaft ist. Man erlebt eine Ebene der Reflexion, in der man darüber nachdenkt: In was für einer Gesellschaft lebe ich eigentlich? Was sind die Geschichten, die wir einander erzählen? 11 Nationalitäten, alle haben ihre eigene Geschichte. Aber wenn wir dieser Geschichte zuhören und sie als wahr und wichtig annehmen, kann sie zu einer gemeinschaftlichen Geschichte werden.