Ein auch optisch ungewöhnliches Buch in Längsform, schmal, „Novelle“ steht drauf, drinnen kurze Episoden, eine Art Lyrik in Prosaform. Doch in diesen Gedichten – oder wie auch immer man diese erschütternden Texte nennen mag – steckt das Grauen. Sie handeln von alltäglich gewordenen Grenzüberschreitungen, von An- und Übergriffen, von gebrochenen Tabus und zerbrochenen Identitäten, aber auch von der Scham und dem Schuldgefühl des Opfers und der Abgestumpftheit der Täter.

Die deutsche Autorin und Performerin Regina Dürig begleitet in „Federn lassen“ eine namenlose Erzählerin von der Kindheit bis ins Erwachsenenalter und skizziert das Leben einer Frau, das von Beginn an durch Anmaßungen und Zumutungen fremdbestimmt ist. Durch den poetischen Grundton, den fließenden Duktus der Sprache kommt die geschilderte Alltagsbrutalität noch klarer zum Vorschein. Das sind Zeilen, die so scharf sind wie die Zurechtweisungen, die sich die Frau anhören muss. „Alle deine Empfindlichkeiten!“

Empfindlichkeiten? Die Vergewaltigung der Jugendlichen; später, bei der erwachsenen Frau, der beiläufige Griff des Rosenverkäufers auf die Brust, der grinsende Onanist im Lift, doch das sind nur die spektakulären Spitzen des Eisbergs. Unter der Wasseroberfläche finden die vom Opfer geduldeten und von den Tätern oft gar nicht wahrgenommenen Übergriffe statt. Vermeintlich harmlose und schon selbstverständliche Vereinnahmungen, Aufdringlichkeiten, Zudringlichkeiten, Eingriffe in die weibliche Autonomie.

„Nein! Warum versteht dieses Wort niemand?“, fragt die Frau an einer Stelle. „Du musst auch unsere Perspektive verstehen“, sagt der Mann. Welche Perspektive denn?

Man kann diesen Text im Konnex der #MeToo- und Selbstermächtigungsdebatte lesen, diese Zeilen gehen jedoch tiefer als jede Schlagzeile. Am Ende bündelt sich alles in einer Szene: das Schweigen, die Stille, die Starre. In einer Debatte über sexuelle Übergriffe beteuert die Frau, die Erzählerin, das Opfer: „I have been pretty lucky so far.“ Regina Dürigs hochliterarischer Text ist ein entlarvendes Leseerlebnis, eine schmerzhafte Zumutung. Eine Zumutung, der man sich stellen sollte.

© KK

Buchtipp: Regina Dürig. Federn lassen.
Novelle.  Droschl, 100 Seiten, 19 Euro.