Norbert Gstrein ist ein Erzähler, dem es wesentlich mehr auf die im Text mitschwingenden Ahnungen und Möglichkeiten als auf den Plot ankommt. Umso erstaunlicher ist es, dass er in seinem neuen Roman "Als ich jung war" gleich zwei sehr unterschiedliche Geschichten erzählt. In ihrer diffizilen Verbindung liegt der Reiz des Buches.

Der erste Handlungsstrang hätte Zeug zu einem Thriller: Bei einer der Hochzeiten, die die Eltern des Protagonisten Franz in ihrem Tiroler Schlossrestaurant nahezu am Fließband ausrichten, verunglückt die Braut in der Hochzeitsnacht tödlich. Sie stürzt vom Schlossberg ausgerechnet dort in die Tiefe, wo der 17-jährige, als Fotograf an der "Hochzeitsfabrik" mitwirkende Franz sein schönstes Standardmotiv zu arrangieren pflegt. Ob Unfall oder Mord ist rätselhaft. Ungereimtheiten gibt es viele.

Von Tirol nach Wyoming

Der zweite Schauplatz liegt in den USA. Im Nest Jackson Hole in Wyoming hatte Franz wenige Wochen nach dem Unglück eine Stelle als Skilehrer angenommen. Aus einer kurzen Abwechslung wurden schließlich 13 Jahre. Die Haupterzählung liegt hier in der engen, freundschaftlichen Beziehung, die während dieser Zeit zwischen Franz und seinem treuesten Privatschüler, einem aus der Tschechoslowakei eingewanderten Raketenphysiker, entsteht. So eng, dass es zu Gerüchten und Tuscheleien über eine homosexuelle Beziehung und zu einem nur halb scherzhaften Adoptionsangebot des schrulligen alten Mannes kommt. Auch hier überschattet ein Gewaltakt alles: Der Professor nimmt sich das Leben, in dem er absichtlich ohne Helm in vollem Schuss gegen einen Baum fährt.

Norbert Gstrein: "Als ich jung war", Hanser, 352 Seiten, 23,70 Euro
Norbert Gstrein: "Als ich jung war", Hanser, 352 Seiten, 23,70 Euro © kk

Raffinesse

Gstrein verzichtet auch hier auf Aufklärung und Beantwortung der vielen aufgeworfenen Fragen, sondern wendet seine ganze erzählerische Raffinesse dafür auf, in den beiden Männern, die Vater und Sohn sein könnten, so etwas wie Brüder im Geiste oder im Schicksal anzudeuten. Franz und Frantisek, wie der Ältere heißt, sind beide in seltsame Affären mit jungen Mädchen verstrickt, deren unglücklicher Verlauf jeweils nur angedeutet wird. Ob die regelmäßig wiederkehrenden Selbstvorwürfe auch kriminelle Tatbestände zur Grundlage haben, bleibt in Schwebe. Sowohl in Tirol als auch in Wyoming lässt Gstrein lästige Ermittler Spuren aufnehmen und herumschnüffeln - die Vernetzung, die der Autor mit großer Hingabe betreibt, findet auf polizeilicher Ebene allerdings nicht statt.

Fährtenleger

So wenig, wie ein echter Kriminalfall konstruiert werden kann, ist "Als ich jung war" ein Krimi. Man mag Gstreins Neigung, dem Möglichkeitssinn deutlich mehr Aufmerksamkeit zu schenken als dem Wirklichkeitssinn, manieriert finden. Seine Meisterschaft als Fährtenleger demonstriert er jedoch in den späten, überraschenden und deutlich kürzeren Schlusskapiteln seines Romans, die noch einmal in ganz andere Richtungen führen. Die Spuren aufzunehmen und zu deuten überlässt er dem Leser. In einer erstaunlichen Volte endet das Buch im Nichts. Gstreins Protagonist macht Tabula rasa: "Solange niemand etwas von mir wusste, konnte ich alles erzählen, und das war ein guter Anfang."