Sterben. Lieben. Spielen. Leben. Träumen. Kämpfen. Auf Tausenden Seiten hat der norwegische Schriftsteller Karl Ove Knausgård in seinem sechsbändigen Romanzyklus "Min Kamp" (wörtlich übersetzt "Mein Kampf") eine exzessive Nabel- und Narbenschau betrieben und damit litarischen Weltruhm erlangt. Knausgård ist somit schon heute ein moderner Klassiker des sogenannten autofiktionalen Schreibens. Wobei das Wort "Autofiktion" selbsterklärend ist - es handelt sich um eine Mischung aus Autobiografie und Fiktion. Das eigene Leben und das familiäre Umfeld werden gewissermaßen literarisch veredelt, vergoldet gleichsam. Das glänzt manchmal mehr - manchmal auch weniger.

Vor allem seit der Jahrtausendwende ist ein eindeutiger literarischer Trend in diese Richtung feststellbar, der sich in den letzten Jahren weiter verstärkt hat. Der Begriff "Autofiktion" selbst geht auf den französischen Schriftsteller Serge Doubrovsky zurück, der diese Bezeichnung für seinen Roman "Fils" (1977) auch im Klappentext zum Buch verwendet hat. Wobei Literatur natürlich immer schon im befruchtenden Spannungsfeld zwischen "Dichtung und Wahrheit" (nicht zufällig auch der Titel der Autobiografie von Johann Wolfang von Goethe) gestanden hat und bis heute steht. Zu einem der wichtigsten Vorläufer des autofiktionalen Erzählens zählt etwa Robert Walser. Bei kaum einem anderen Autor stand das (zersplitterte) Ich so sehr im Zentrum seines Schreibprozesses, zudem betrieb Walser eine permanente Maskerade um seine tatsächliche oder vermeintliche Biografie.

Der Schriftsteller Robert Walser in jungen Jahren
Der Schriftsteller Robert Walser in jungen Jahren © KK

Zahlreiche Beispiele aus der Gegenwart zeigen, dass das autobiografische Ich bzw. das Wir des sozialen Umfeldes Ausgangspunkt und Zentrum des literarischen Prozesses ist. Die französische Literatin Annie Ernaux hat in mehreren Büchern ihr eigenes Leben seziert und damit eine "kollektive Geschichte" geschaffen, wie Kritiker konstatieren. Saša Stanišić  hat seine deutsch-jugoslawische "Herkunft" beschrieben und mit dem gleichnamigen Buch den Deutschen Buchpreis 2019 gewonnen. Benjamin von Stuckrad-Barre hat in "Panikherz" seine Kokainsucht und Bulimie offengelegt. Stefanie Sargnagel ist mit ihrem Roman "Dicht" ebenfalls ganz nah am eigenen Leben, in ihrem Fall jenem einer "Tagediebin". Monika Helfer hatte mit ihren beiden feinfühligen literarischen Erinnerungsstücken  "Die Bagage" und zuletzt "Vati" Riesenerfolg. Ebenso der US-vietnamesische Shootingstar Ocean Vuong, der sich in seinem Roman "Auf Erden sind wir kurz grandios" sehr eindeutig an der eigenen schmerzhaften Familiengeschichte abarbeitet. Und die Hauptfigur im neuen Roman ("Das Geheimnis von Zimmer 622") des Bestseller-Autors Joël Dicker heißt - Joël Dicker.

Wobei: Roman? Sind autofiktionale Autoren überhaupt noch Romanciers? Oder hat der Boom der Autofiktion nicht vielmehr "das Ende des Romans" eingeläutet, wie etwa der englische "Guardian" befürchtet und alarmiert fragt: "Wo bleibt der Plot, wo bleibt die Entwicklung von Charakteren, wo bleibt die Fantasie?" Kurz: Wo bleibt die Literatur?

Der Journalist, Literaturkritiker, Übersetzer und Schriftsteller Thomas Steinfeld hat dazu eine eindeutige Meinung und in der "Süddeutschen Zeitung" gleich eine Generalabrechnung mit der Gegenwartsliteratur hingelegt. Steinfeld kritisiert vor allem, dass sich aktuelle Literatur zu stark auf den Skandal und vor allem auf das Reale verlassen würde. "Denn die Literatur lebt vom Willen zu Form, von der Kunst des Schreibens. Ihre Größe, ihre Haltbarkeit, ja auch ihr Erlösendes gibt es nur, weil sie sich vom Leben trennt, weil sie etwas Fiktives, Vages, halb Vorgestelltes, halb Erinnertes so gestaltet,  dass dabei ein anderes Jetzt entsteht - und die Freiheit, sich dorthin und wieder zurück begeben zu können." Eine Literatur, die hauptsächlich auf dem Echten und Realen bestehe, wisse von dieser Freiheit nichts und wolle davon auch nichts wissen, so Steinfeld. 

Literaturwissenschafter und Leiter des Literaturhauses Graz: Klaus Kastberger
Literaturwissenschafter und Leiter des Literaturhauses Graz: Klaus Kastberger © ORF (Johannes Puch)

Klaus Kastberger, Literaturwissenschafter und Leiter des Literaturhauses Graz, sieht das Thema nicht so streng. "Selbstverständlich ist auch die Literatur Moden unterworfen, und in letzter Zeit gibt es eben einen starken Trend zum Autofiktionalen." Wirklich neu, so Kastberger, sei diese Stilform natürlich nicht, vielmehr handle es sich um das uralte Muster der Verwebung von Leben und Fiktion. "Jetzt ist Autofiktion eben eine Marke, die recht gut funktioniert und sich gut verkauft."

Für den regelrechten Boom an Autofiktion hat Kastberger mehrere Erklärungen. "Zum einen herrscht schon seit längerem eine gewisse Unzufriedenheit mit der klassischen Romanform. Zum anderen besteht dadurch, dass wir zunehmend in einer virtuellen Welt leben, offenbar ein großes Bedürfnis nach der - natürlich oft vermeintlichen - Wahrheit der Wirklichkeit." Kastberger verweist in diesem Zusammenhang auf das Buch "Reality Hunger" des US-Autors David Shields, das folgende drei Fragen im Untertitel stellt: Ist der Roman tot? Kann man die Wirklichkeit unter Kopierschutz stellen? Ist Kunst Diebstahl?

Apropos Hunger: Klaus Kastbergers Hunger nach Tausenden Seiten Knausgard'scher Selbstbespiegelung hält sich in Grenzen. "Dennoch würde ich das nicht verdammen. Es ist Literatur." Nachsatz: "Und als solche natürlich auch kritisierbar."

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Buchtipp. David Shields. Reality Hunger. Ein Manifest. C.H.Beck, 224 Seiten, 19,90 Euro.